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In der Hitze der Stadt

In der Hitze der Stadt

Titel: In der Hitze der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
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Pendler, der auf seinen Zug wartet. So einer steht eben da, wartet. Er regt sich nicht auf. Der Zug wird wie immer pünktlich kommen. Warum sich beunruhigen?
    Regazzoni blickte Azoglu mittlerweile ganz ohne Scham an, erforschte sein Gesicht. Er fand die Reaktion des Türken – diese Nicht-Reaktion – verwirrend. Viele Eltern hatte er schon an diesen Ort begleiten müssen und er war einiges gewohnt. Ansatzlose Zusammenbrüche, Schreianfälle, Tobsuchtsanfälle, unsägliches Wimmern. Diese Schrecknisse waren etwas vom Bedrückendsten, das seine Arbeit mit sich brachte. Wenn er Eltern an diese kalten Metallkästen führte, war er nicht mehr Wissenschaftler, sondern nur noch Mensch. Er litt mit ihnen, konnte doch nichts tun, nichts sagen, das irgendeinen Sinn gegeben hätte.

    Aber Azoglu?

    Der Mann schien so unbeteiligt an der ganzen Angelegenheit zu sein, wie ein alter Pfarrer bei der Beerdigung eines unbekannten Tagelöhners ohne Geld im Sack.
    Nun gut, dachte Regazzoni. Manchmal brechen die Leute erst zusammen, wenn sie vom Kind im Kasten wegtreten, wenn sie unbeobachtet sind. Dann kommen plötzlich die Tränen, werden die Knie weich wie Gummi, die Arme gehen auseinander, suchen Halt im Nirgendwo, doch der Körper schlenkert schon Richtung Boden, wie der eines Betrunkenen.
    Nichts dergleichen geschah.
    Azoglu drehte sich leicht zu Regazzoni, blieb beherrscht, wandte sich sogar mit einer Frage an ihn. Er fragte: »Was muss ich tun jetzt. Sagen, dass meine Tochter?«
    »Äh, wie bitte?«
    »Ich muss identifizieren?«
    »Äh, ja, ich denke … natürlich.«
    Azoglu schaute zu Regazzoni hin, dann zu Baumer. Er sagte: »Das ist Emine. Ich erkenne sie.« Er nickte knapp.
    Baumer quittierte diese Aussage des Türken nicht. Er blickte ihn einfach weiterhin an. Er hatte ebenso wie der Tessiner Arzt nach Indizien gesucht. Indizien dafür, dass der Mörder beim Anblick seines Opfers schockiert die Fasson verliert, den Anblick nicht ertragen kann. Dass er zu zittern beginnt, die Hände vors Gesicht schlägt, weil er seine Schuld nicht mehr ertragen kann. Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, hätte er stammeln sollen. Und, ja. Ich war es, hätte er schließlich alles zugeben sollen. Doch nichts dergleichen war geschehen. Der Hausmeister Erin Azoglu fragte nur kühl: »Bin ich fertig jetzt? Kann ich gehen?«
    Regazzoni schaute Baumer fragend an, als Azoglu zwei Schritte zurückgetreten war, sich abgedreht hatte und wartete, dass er den Raum verlassen konnte. War Azoglu doch nicht der Mörder?
    Der Kommissar bemerkte den Blick des »Professors«, aber reagierte nicht darauf. Ja, Azoglu hatte nicht die erhoffte Reaktion gezeigt, war ein schwererer Brocken als erwartet. Nun würde es halt doch ein wenig komplizierter werden, den Türken zu überführen.
    Doch überführen würden sie ihn.
    Sie stiegen aus dem Keller und gingen zurück zu Regazzonis Büro. Das war schon zuvor so zwischen Baumer, Heinzmann, Regazzoni und Danner abgesprochen worden. Was folgen würde, war ein weiterer Teil des Plans, Azoglu zu überführen. Sie würden also das zweite Triebwerk der selbstgebastelten Experimentalrakete zünden. Die erste Stufe war nur verpufft. Aber die zweite würde abgehen. Die Rakete würde unweigerlich beschleunigen, immer höher und höher steigen, am höchsten Punkt würde sie prächtig in allen Farben zerplatzen und alle Zuschauer würden begeistert »Oh!« und »Ah!« rufen.

    *
    Auf dem Weg zurück von den Kühlkammern ins Büro hatte Regazzoni den Vater von Mina informiert, dass seine Tochter leider weiterhin im Institut bleiben müsse. Es gäbe noch wichtige Dinge zu untersuchen. Eine Freigabe der Leiche könne wohl erst in einigen Tagen geschehen. Als der Vater kaum reagierte, fragte der Gerichtsmediziner doch nach. »Ich dachte, muslimische Personen müssten innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden. Ist das nicht ein Problem für Sie?«
    »Nein, ist kein Problem für mich«, hatte der Mann geantwortet.
    »Kein Problem«, stopfte Baumer diese Aussage von Azoglu in seinen Bauch. Das war wichtig zu wissen. Warum? Er konnte es nicht sagen.
    Im Büro von Regazzoni angekommen, setzte sich Erin Azoglu in einen Stuhl, dachte wahrscheinlich, dass es noch irgendwelche Formulare zu unterzeichen gäbe. Man kennt das ja von der Motorfahrzeugkontrolle. Nachdem man bezahlt hat, geht man an einen anderen Schalter, holt die Schilder ab, unterzeichnet nochmals irgendeine Bestätigung, sagt Danke und – vielleicht – auf

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