In der Stille der Nacht - Thriller
Selbstschutzgründen ging er übertrieben großspurig, guckte dabei mürrisch und wirkte von der ihm fremden Eleganz der Universitätsstudenten eingeschüchtert. Alex machte es nichts aus; sie hatte ihre gesamte Kindheit über bei ihren Freunden
Hausverbot gehabt. Alleinerziehenden begegnete man damals mit Missbilligung, ihre Mutter war vor Depressionen halbverrückt und sie wurde den Ruf, etwas mit den Mc-Graths zu tun zu haben, nie los. Alex war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass sowieso alle besser waren als sie.
Sie gingen zum Torgebäude, am Pförtnerhäuschen vorbei und befanden sich nun auf dem Unigelände. Die juristische Fakultät war vom Hauptgebäude getrennt, befand sich rechts davon, auf der anderen Seite einer Rasenfläche. Eine lange Reihe schmaler Stadthäuser mit hohen schmalen Fenstern und kleinen schwarzen Eingangstüren unterstrich die strenge Atmosphäre. Irgendwann einmal mussten es Wohnhäuser für Studenten und Lehrkräfte gewesen sein: Eine blaue Plakette an der Wand informierte den unbeteiligten Passanten über einen längst verstorbenen berühmten Bewohner.
Der Haupteingang zur juristischen Fakultät führte durch eine der kleinen Haustüren. Der Gang wirkte wenig vielversprechend. Grellblauer Teppich, blaue Raufasertapete, sowie weiß gestrichene Fußleisten und Türen. An eine Infotafel aus Kork waren Zettel gepinnt, überall hing dieselbe Mitteilung, mit der Studenten ermahnt wurden, regelmäßig ihre E-Mail-Nachrichten abzurufen. Morrow war also offenbar nicht die einzige Idiotin. Die Häuser waren durch lange Flure, für die man die Wände durchbrochen hatte, miteinander verbunden.
Es musste auf die volle Stunde zugehen: Von der Treppe und durch die Tür hinter ihnen kamen Studenten, einer nach dem anderen, in das Gebäude.
Auf der rechten Seite, direkt hinter der Eingangstür, stand »Information« über einem Glaskasten, aus dem ihnen ein Mann in einem blauen Hemd erwartungsvoll entgegensah.
»Hallo, wir suchen den Tutor einer Ihrer Studenten«, sagte Morrow freundlich.
»Und um wen, junge Frau, handelt es sich dabei bitte?« Seine Augen funkelten spielerisch, als wäre Morrow in den Witz eingeweiht und wüsste, dass sie weder eine Dame noch jung war.
»Omar Anwar.« Sie klang kalt. »Hat letzten Juni seinen Abschluss gemacht.«
Der Wachmann holte tief Luft, bereitete sich darauf vor, ihr die Abfuhr heimzuzahlen. Sie zog ihren Dienstausweis heraus und knallte ihn gegen die Scheibe. Er betrachtete ihn und nickte, während er die Luft aus seiner Lunge wieder entweichen ließ. Dann wandte er sich dem Computer zu und bat sie, den Namen zu buchstabieren. Tormod MacLeòid sei ihr Mann, erklärte er. Er würde anrufen und herausfinden, ob der Professor da sei.
Professor Tormod MacLeòid hielt sich für den Allergrößten. Sein Büro und seine persönliche Erscheinung ließen auf einen Mann schließen, der sein Leben der überheblichen Manieriertheit und allem Verstaubten gewidmet hatte. Er ließ sie zehn Minuten im Büro seiner Sekretärin warten, kam dann herein und bat sie zunächst, ihm Omars Studentenakte zu bringen, bevor er sich auf das Gespräch einließ. In seinem Büro überantwortete er sie passiver Stille, während er die Akte durchsah. Glücklicherweise war sie kaum umfangreicher als fünf Absätze und Morrow hatte dadurch Gelegenheit, sich in seinem Büro umzusehen.
Wie das Gebäude selbst war auch das Zimmer hoch und schmal. An jeder verfügbaren Wandfläche lastete das Gewicht von Büchern, die meisten davon alt, angeschlagen und
allem Anschein nach längst vergriffen. Vor den Büchern und auch darauf standen Porträtbüsten mit fehlenden Nasen, Gesteinsbrocken und Mauerreste, Miniatur-Reproduktionen von griechischen Vasen. Oben auf einem der Regale lag zylinderförmig aufgerollt eine mit der Zeit verblichene braun- und rosafarbene Krawatte des Fettes College. Morrow war sicher, dass es zu jedem Gegenstand hier eine Geschichte gab und dass jede Geschichte lang und gewichtig sein würde.
Sie hatte auf dem einzigen Stuhl vor dem unaufgeräumten Schreibtisch Platz genommen und es Gobby überlassen, sich vor einen wackligen Stapel mit Aufsätzen auf einen Stuhl neben der Tür zu setzen, schweigend rang er die Hände und widmete sich allen Nuancen seines Unbehagens.
Endlich lehnte sich der Professor auf seinem hölzernen Thron zurück, strich sich über den Bart, zupfte sein Jackett zurecht und lächelte ein herablassendes gelbes Lächeln. »Ich erinnere mich an
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