In der Stille der Nacht - Thriller
ihn, gewiss, ja. Woher stammte er nochmal?«
»Pollockshields«, sagte Morrow.
»Ah …« Seine Augen weiteten sich angesichts der versteckten Zurechtweisung. »Ja, die alte Kolonie Pollockshields«, er grinste. »Ganz recht.«
»Sie haben ihn geprüft und er hat sein Studium mit Note eins abgeschlossen.« Morrow ließ ihren schäbigen Southside-Akzent heraushängen, um Fettes behäbig vornehmer Sprechweise etwas entgegenzusetzen.
»Ich hab gedacht, vielleicht könnten Sie sich an ein bisschen mehr im Zusammenhang mit ihm erinnern, als nur daran, wie dunkelhäutig er war.«
Tormods Gesichtsausdruck verkrampfte. »Ich hatte seine Hautfarbe gar nicht erwähnt.«
Sie wartete einen Augenblick, ließ ihn zappeln. »Was war er für eine Art von Student?«
Er räusperte sich gereizt und sah noch einmal in die Akte. »Sehr gut, fähig, fleißig.«
»Und ihr Fachgebiet ist …?«
Er blinzelte lange und heftig. »Zivilrecht. Römisches Recht.«
»Warum hat er sich mit römischem Recht beschäftigt?«
Tormod holte tief Luft, reckte ihnen sein behaartes Kinn entgegen und begann lustlos einen Vortrag, den er bereits viele Male gehalten hatte: »Im Abschlussjahr studiert man aus zwei Gründen Zivilrecht. Entweder hofft der Student eine Anwaltskarriere einzuschlagen oder vielleicht sogar Richter zu werden, oder aber ihn treibt das aufrichtige Interesse an der Rechtsgeschichte. Dabei handelt es sich um einen offeneren Zugang zur juristischen Disziplin. Weniger an Paragrafen orientiert, als an unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten. In …«, er warf erneut einen Blick in die Akte, »Omars Fall, war es wohl der Wunsch, die Laufbahn des Anwalts einzuschlagen. Zumindest war das mein Eindruck, als ich ihn zum Seminar zuließ.«
»Und trotzdem hat er sich dagegen entschieden, in den Beruf einzusteigen. Nicht einmal als Anwaltsgehilfe war er tätig.«
»In der Tat?«
»Warum?«
»Keine Ahnung. Das müssen Sie ihn fragen.«
»Waren Sie an der Organisation der außerlehrplanmäßigen Aktivitäten, an denen Omar teilgenommen hat, beteiligt?«
Sein Blick blieb ausdruckslos und er suchte auf dem Blatt vor sich nach einem Stichwort. »Die Prozesswettkämpfe des Moot Court?«
»Was ist das?«
»Eigentlich nur ein Debattierzirkel, es geht um juristisches Rollenspiel.« Er klang abfällig.
»Omar hat da mitgemacht?«
»So steht es hier.«
»Sie haben damit nichts zu tun?«
»Nein.«
»Wird das benotet oder angerechnet?«
»Nein, natürlich nicht. Ist aber sehr zeitintensiv.«
»Sieht also aus, als wäre er zu Beginn des Semesters noch sehr engagiert gewesen, oder nicht?« Sie machte ein neutrales Gesicht, aber er hörte die versteckte Anspielung heraus.
Langsam zog er die Lippe verächtlich hoch.
Morrow stand abrupt auf. »Vielen Dank«, sagte sie und zog ihren Mantel von der Stuhllehne. Gobby sprang auf die Füße.
Fast wäre Tormod aufgestanden, um sie nach draußen zu begleiten, überlegte es sich dann aber anders. »Ich vermute, Sie finden den Weg«, sagte er kurz angebunden.
Morrow zeigte auf die Tür, durch die Gobby bereits fast verschwunden war. »Heißt das, Sie vermuten, dass wir die Tür hier in der Wand finden?«
Er wirkte eingeschnappt. Urplötzlich wurde ihr klar, dass er zu der Sorte gehörte, die sich bei einem Dinner im Golfclub bei einem ihrer Vorgesetzten beschweren würden, deshalb dankte sie ihm für seine Hilfe und Zeit und knallte anschließend die Tür hinter sich zu. Wäre sie asiatischer Abstammung gewesen und hätte bei Tormod MacLeòid
studiert, hätte sie es sich auch zweimal überlegt, ob sie den Beruf überhaupt ausüben wollte.
Gobby schwitzte als sie die Treppe hinunterstiegen. Das Gebäude war überheizt, aber er fühlte sich nicht wohl genug, um seinen Mantel auszuziehen. Er konnte es nicht abwarten, endlich wieder nach draußen zu kommen, aber Morrow hielt ihn am Fuß der Treppe zurück. »Nein, warte.« Sie sah eine Gruppe von Studenten, die sich vor der Infotafel für das vierte Studienjahr scharten. »Komm mal her …«
Gobby hätte sich fast beschwert, fing sich aber wieder und folgte ihr. Sie suchte sich den größten, selbstbewusstesten Jungen der Gruppe aus und Gobby baute sich hinter ihr auf und schwitzte.
Der Junge war groß und sah so gesund aus, wie es sich eine Mutter nur wünschen kann, er trug teure Freizeitkleidung mit Markennamen, eine dicke Ledertasche und einen akkuraten Haarschnitt.
»Entschuldigung …«, sprach Morrow ihn an. Er lächelte mit
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