In der Stille der Nacht - Thriller
senfgelben Pullover mit Mottenlöchern am Arm und abgeschnittene kurze Jeans. Sie sah fantastisch aus. Morrow merkte, dass Harris nach ihren spektakulär braunen Beinen und lackierten Fußnägeln
schielte. Und trotzdem, irgendwo an ihren großen runden Augen und ihren breiten Schultern war ein entfernter Anklang an Lilys Familie auszumachen. Das war der Fluch der Aufsteiger, die nächste Generation war immer besser ernährt und derart gebildet, dass es das Fassungsvermögen ihrer Eltern völlig überstieg.
Hinter Lily, im blassgrauen Flur, hing ein schmollender Dreijähriger am gewachsten Treppengeländer und starrte ihnen mit großen Augen entgegen. Dahinter führte der Flur in eine helle, fröhliche Küche.
»Lily?«
Sie lächelte sie an. »Ja, kann ich Ihnen helfen?«
Das Kind verlor angesichts der dunklen Anzüge und ihrer sehr förmlichen Haltung das Interesse und rannte in die Küche.
Morrow stellte sich und Harris vor. »Wir ermitteln im Fall der Entführung von Mr Aamir Anwar. Dürfen wir hereinkommen und mit Ihnen sprechen?«
»Oh, du liebe Zeit, ja natürlich.« Sie öffnete die Tür ganz und bat sie einzutreten. »Haben sie etwas von Aamir gehört? Ist er zu Hause?«
»Nein, ich fürchte noch nicht.«
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein.« Sie führte sie in die Küche und bot ihnen Stühle an einem Kiefernholztisch voller Becher, Kinderzeichnungen und Rechnungen an. »Ein bisschen chaotisch bevor die Putzfrau kommt, sagte sie und schob alles auf eine Seite. Der Junge saß auf einem roten Kinderstuhl in der Ecke und trank aus einer Kindertasse, beobachtete die Eindringlinge offensichtlich ungehalten.
Lily setzte sich auf einen Küchenstuhl ihnen gegenüber. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Nun«, Morrow zog ihr Notizbuch heraus, um Eindruck zu schinden. »Ihr Name fiel ein paarmal, und wir haben uns gefragt, ob wir uns wohl mit Ihnen über Ihr Verhältnis zu Mr Anwar unterhalten dürften.«
Sie wirkte ein bisschen verlegen und blickte zu dem kleinen Prinzen auf dem Kinderthron. »Okay.«
»Wo haben Sie sich kennengelernt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »In der Schule.«
Morrow sah sie erstaunt an. »In der Schule?«
»Omar und Billal, ja. Ich war im selben Jahrgang wie Billal.«
»Ah, ja.« Sie schrieb es in ihr Notizbuch, was ihr Zeit zum Nachdenken verschaffte.
»Okay, und in welcher Beziehung stehen sie zueinander?«
»Nun, Billal ist Olivers Vater ….«
Das Kind sah trotzig von einem zum anderen, wusste dass über es gesprochen wurde, was ihm gar nicht gefiel.
»Und wie alt ist Oliver jetzt?«
»Drei Jahre und vier Monate«, sagte sie, als sei das ein Triumph. Morrow schrieb es unabgekürzt in ihr Buch. Die Bleistiftspitze riss ins Papier. »Aber Sie sind nicht mit Billal zusammen?«
»Nein.« Lily sah auf das Papier, auf den Riss, runzelte die schöne Stirn.
»Und«, sagte Morrow, »Sie wissen auch, dass er gerade ein weiteres Baby mit seiner Frau bekommen hat?«
»Hm«, sie sah von dem Riss zu Morrow auf, wusste, dass sie versuchte, sie aus dem Konzept zu bringen. »Soll mir recht sein.«
»Sie hatten sich sowieso getrennt?«
Lily fasste sich ins dichte, dicke Haar und stützte sich auf
ihren Ellbogen. »Billal …«, sie warf einen Blick auf ihr Kind, »ist ehrlich gesagt ziemlich schwierig. Nichts für mich.«
»Inwiefern schwierig?«
Sie zögerte und senkte die Stimme. »Seine Familie bedeutet ihm sehr viel.«
»Ihre Familie?«
Lily sah ihr direkt in die Augen und wich der Frage aus. »Ich habe mich kurz nach der Geburt von dem kleinen Racker hier von ihm getrennt«, sie nickte in Richtung ihres Jungen, »aber er sich von mir erst sehr viel später.«
»Heißt das, er hat sie belästigt?«
Lily räusperte sich, richtete sich auf und sah auf die Wanduhr. »Sehen Sie, äh, das Kindermädchen kommt bald, können wir nicht später darüber reden? Mir ist nicht wohl dabei, wenn …«
»Nein«, sagte Morrow trocken, »es ist dringend.«
Das gefiel ihr nicht. Sie sah von Morrow wieder auf den Riss in deren Notizbuch und zurück, sie kaute auf ihrer Wange und drehte sich zu dem Kind um. »Na gut, mein Großer, wie wär’s, wenn du dir einen Pullover anziehst und ein bisschen durch den Garten tobst?«
Das Kind zuckte mit den Schultern und stand auf, ließ achtlos seinen Becher fallen. Sie ging zu ihm, hob einen hellblauen Pullover vom Boden auf, zog ihn dem Jungen über den Kopf, schnürte seine Schuhe fester, öffnete die Hintertür und schob ihn hinaus. »Pass
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