In einer Familie
schien sich ihre Liebe ganz und gar
verjüngt zu haben. Wellkamp fand wie nie vorher
eine vol e und zarte Hingabe an das ganze Wesen der
Geliebten. Bei seiner Feinfühligkeit für die Empfin-
dungsweise anderer, welche ihn ja andererseits leicht
beeinflußbar und schwach von Willen machte, er-
schloß sich ihm in diesem Fal e das liebenswürdigste
Verständnis für die unausgesprochenen Neigungen
und Liebhabereien der jungen Frau.
»Hast Du bemerkt«, fragte er sie einmal, »daß es
hier für uns manche verlorene Vormittagsstunde
gibt, die wir nützlich anwenden könnten? Wie wäre
es, wenn wir einmal eine Vorlesung hörten oder ein
Hospital, ein Arbeitshaus besuchten? Ich würde mir
schon die nötigen Empfehlungen verschaffen, und
ein wenig ›soziale Studien‹ können nicht schaden –
wie?«
An ihrer erfreuten Zustimmung erkannte er, daß
er einen Wunsch getroffen, den sie vielleicht nur aus
118
Furcht, ihn zu langweilen, nicht auszusprechen ge-
wagt.
Man mag hart über den moralischen Zustand
eines Augenblickscharakters seiner Art urteilen, der
mit einer gleichsam halsbrecherischen Behendigkeit
von einem seelischen Standpunkt zum genau entge-
gengesetzten überzuspringen gewohnt ist. Jeden-
falls aber belog Wellkamp weder sich selbst noch
die Menschen, an die er sich jedesmal in aller Auf-
richtigkeit anlehnte, um ein inneres Gleichgewicht
zu suchen, das ihm niemals vollständig zu teil ge-
worden war. Er glaubte in Wahrheit stets, wenn er
einem neuen Eindruck unterlag, in diesem Falle
endlich ein Ziel und einen Ruhepunkt gefunden zu
haben. Man hätte glauben sollen, daß der ewig
schwankende Dilettantismus, der sich immer neuen
Einflüssen mit immer gleicher Ausschließlichkeit
hingab, eine Künstlernatur voraussetzte. Indes war
Wellkamp das bewußt Spielende der Künstlernatur
fremd, die alle möglichen seelischen Lebensarten
durchläuft, ohne eine von ihnen für ihre eigene, ur-
sprüngliche zu halten oder etwas anderes in ihr zu
sehen als eine Station ihres Studienganges. Es war
vielleicht nichts anderes als seine zu große Aufrich-
tigkeit und der damit verbundene Mangel an
Selbstkritik, der seinen Geist für eine seiner Natur
entsprechende Kunstübung untauglich machte. Da-
mit war er eines Zweckes beraubt, der, einmal in
seiner Existenz vorhanden und wirksam, vermut-
119
lich etwas ganz Verschiedenes aus ihr gemacht ha-
ben würde.
In diesem Falle indes wäre ohne seine wohl zu
fühlende Aufrichtigkeit die volle Herzlichkeit ihres
Verhältnisses gar nicht möglich gewesen. Die woh-
lige Stimmung des auf sich selbst Gelassenseins
nahm zu mit dem sie umwogenden und fest aneinan-
der drängenden Leben, das in dieser Zeit noch so
viel mächtiger geworden. Denn Weihnacht stand
dicht bevor, die Menge der Menschen hatte sich be-
sonders in den Hauptverkehrsstraßen verdreifacht,
und die beiden jungen Leute ließen sich gern von ihr
treiben. Sie sahen sich zuweilen mit einem Kinderlä-
cheln an, wenn sie einmal nicht viel mehr nötig ge-
habt, als einen Fuß vor den andern zu setzen, um
von ihrer Umgebung den Weg, den sie zurückgelegt,
entlang geschoben zu werden. Dazwischen betrach-
teten sie es jedesmal als eine angenehme Überra-
schung, vor einem oder dem andern Schaufenster
anzuhalten, an das sie der Zufal herangedrängt. Ein
willenloses Sichgehenlassen und zufriedenes Ab-
warten des Kommenden entsprach ganz ihrer dop-
pelten, weil aus der besondern Bedeutung der Zeit
und ihrer Liebe hervorgegangenen Feststimmung.
Daher waren sie auch sofort übereingekommen, ge-
nau nach dem Wunsche des Vaters zu handeln, von
dem sie die Mitteilung erhalten, er könne sich wohl
denken, daß sie sich zur Zeit dort besonders gut un-
terhielten, aber ohne drängen zu wollen, möchte er
120
doch bitten, daß sie wenigstens gerade zu Weihnacht
heimkehrten.
Demnach brachen sie, nach Voraussendung einer
Depesche, am Morgen vor der heiligen Nacht nach
Dresden auf. Der Major, der sie am Böhmischen
Bahnhof mit seinem fröhlichen guten Lachen emp-
fing und nacheinander in die Arme schloß, führte die
jungen Leute in ihre neu eingerichtete Wohnung,
welche gleich der daranstoßenden des Grubeck-
schen Paares geschmackvol mit Tannen geschmückt
war. Die sehr gelungene, größtenteils von Herrn v.
Grubeck selbst angeordnete Ausstattung und dazu
der festliche Schmuck des kleinen hübschen Appar-
tements war ganz geeignet, die weihnachtliche
Weitere Kostenlose Bücher