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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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geistig über sie hinausgewach-
    senen Sohn mit halb scherzhafter Überlegenheit
    maßregelt.
    Für Wellkamp hatte indes ihre veränderte Ver-
    kehrsart die anfängliche beruhigende Wirkung völ-
    lig verloren. Er hatte im Gegenteil begonnen, etwas
    wie eine Koketterie herauszufühlen, die in ihrer
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    Heimlichkeit dem jungen Mann doppelt unwider-
    stehlich deuchte. Jetzt unterlag er vollends der Ver-
    wirrung, die sich, zugleich peinigend und berük-
    kend, seit Viertelstunden in ihm vorbereitet hatte.
    War ihm aus dem unschuldigen Glücksrausch der
    jüngsten Wochen noch ein Rest des Bewußtseins ge-
    blieben, als sei eine endgiltige Heilung seines Lebens
    vor sich gegangen, so hielt er nicht dieser Minute
    stand, in der er sich aufs neue schuldig werden
    fühlte.
    Von den Blättern des Buches, welche von seinen
    plötzlich heißen Fingern feucht geworden waren, er-
    hob er in steigender Ratlosigkeit seinen Blick zu
    dem der Frau, die ihm nun schweigend gegenüber-
    stand. Er meinte auch den ihren verändert, die Ruhe
    daraus verschwunden, und das Lächeln, das sie noch
    immer festhielt, willkürlich und starr geworden zu
    sehen. Seine Augen schweiften augenblicklich weiter
    zur Seite, um hier Annas Blick auf Doras Gesicht ge-
    richtet zu finden. Und für seine Empfindlichkeit, die
    wie immer in Augenblicken, wo sich in uns eine Ent-
    scheidung vorbereitet, ungewöhnlich geschärft war,
    mußte dieser Blick von außerordentlicher Wirkung
    sein.
    Wirklich war der Ausdruck der Antipathie, den
    Dora in dem Auge ihrer Feindin wahrgenommen, in
    den einer kaum verhohlenen Verachtung übergegan-
    gen. Was ihr Gatte auch darüber denken mochte, so
    war es doch Thatsache, daß die junge Frau, nicht we-
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    niger als er, heimlich gepflegte Illusionen von ihrer
    Reise heimgebracht. Auch sie hatte in jener Zeit des
    friedlichen Glückes ihren bisherigen Leidenschaften
    und Vorurteilen ins Angesicht gesehen und hatte, bei
    dem Gedanken an Dora, den aufrichtigen Wunsch
    und eine starke Hoffnung empfunden, ihre Natur
    überwinden zu können. Aber nach der Rückkehr
    hatte sie sich, ebenso wie der Mann, im Alltag wie-
    dergefunden. Einmal im Gespräch mit Dora, war sie
    alsbald von neuem und ganz unverändert der Abnei-
    gung unterlegen, die ihr gegen diese Frau wie gegen
    die Angehörige einer feindlichen Rasse innewohnte.
    Alles in ihr widersprach der Persönlichkeit Doras,
    ihrem ganzen Sein und Auftreten und jeder ihrer
    Äußerungen. Auch zeigte sich bei der jetzigen Gele-
    genheit nur die fast unvermeidliche Verachtung des
    überlegenen weiblichen Geistes für die Unselbstän-
    digkeit der Frau, von der sie ahnte, daß sie ihren gei-
    stigen Unterhalt mit dem bestritt, was ihr etwa von
    den in ihrem Kreise lebenden Männern überkom-
    men war. Sie war häufig genug dem Verstande Doras
    begegnet, der ihr niemals in sich selbst vertieft und
    immer nur oberflächlich die Gedanken anderer
    nachzudenken schien. Mehr als einmal hatte sie ehe-
    mals Einwände von Frau v. Grubeck zu hören be-
    kommen, die allzu deutlich im Geiste ihres eigenen
    Vaters gewesen waren, und in ihrer Voreingenom-
    menheit hatte sie niemals die Entschuldigung zuge-
    lassen, daß solche Übertragungen durch die ehe-
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    lichen Beziehungen, durch die tägliche Gewohnheit
    des Verkehrs, selbst bei fehlender Sympathie zwi-
    schen den Gatten so natürlich herbeigeführt wur-
    den. Noch soeben meinte sie die gleiche Beobach-
    tung bei Doras Äußerung über das Berliner Leben
    zu machen, die ihr ebenfalls Herrn v. Grubeck ent-
    lehnt schien. Nun machte sie sie bei ihren Bemer-
    kungen über das Renansche Buch. Sie hielt dafür,
    daß Dora in die Fragen, die sie berührt, viel zu wenig
    eingeweiht sei, um die Kritik abgeben zu können,
    wie sie es gethan. Sie hatte überdies Ausdrücke ge-
    braucht, welche auch Wellkamp bevorzugte, und
    zweifellos war es dieser selbst, der ihr die betreffen-
    den Ansichten in gelegentlichem Gespräch, viel-
    leicht ohne daß sie selbst es bemerkt, eingeflößt
    hatte.
    Dadurch waren die Gefühle bestimmt, die Annas
    Blick ausdrückte, in welchem Wel kamp, mit seinem
    lauernden Schuldbewußtsein, anderes und mehr las.
    Jedoch unentschlossen und nicht imstande, auch
    nur einen Augenblick bestimmt und einseitig zu ur-
    teilen, hatte er selbst für seine ehrlichsten, unwill-
    kürlichen Regungen sofort wieder ein »Es ist nicht
    wahr!« Sobald sein Schuldgefühl eine Bestätigung
    erhielt, leugnete er es vor sich selbst nur

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