In einer Familie
um so eifri-
ger. Er sträubte sich alsbald dagegen, die Berechti-
gung des Vorwurfes anzuerkennen, den er in Annas
Augen ausgesprochen glaubte.
»Zuerst das Hervorkehren der ärgsten Verständ-
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nislosigkeit,« so durchblitzte es ihn, »nachdem ich
wochenlang ein wahrhaft gemeinsames Leben mit
ihr zu führen geglaubt, und jetzt noch ein offenes
Mißtrauen!«
Das abweisende Gefühl gegen Anna, das sich sei-
ner bemächtigt hatte, artete für eine Minute soweit
aus, daß er alle Bedenken unterdrückte.
»Und wenn sie recht hat,« sprach eine wilde und
verzweifelte Stimme in ihm, »– um so schlimmer für
sie, wir sind alle gegen das Schicksal machtlos!«
Aber noch bevor er den Gedanken zu Ende ge-
dacht, biß er sich auf die Lippen, um seine Miene ge-
waltsam ruhig zu halten in dem wilden Sinnentaumel,
den die bloße Vorstellung in ihm hervorbrachte, es
könnten seine bisher vor ihm selbst namenlosen, aber
von jeder Minute, die er atmete, höher geschwellten
Wünsche verwirklicht werden. Die verbrecherische,
quälende Süßigkeit dieser Vorstellung, in der er die
Unendlichkeit durchkostete, zwang ihn, sich seine
Rettungslosigkeit zuzugeben. Er wußte nun, daß das,
was er noch soeben in zorniger Ungeduld »Schicksal«
genannt, für ihn in Wahrheit die Unerbittlichkeit
eines solchen erlangt hatte.
Die jähe Gewißheit machte ihn unfähig, den Blick
zu erheben. Er hatte ihn von neuem auf das Buch ge-
senkt, das er noch immer in der Hand hielt, und in
dessen Blättern seine Finger nervös umherstöberten.
Nach der angespannten Thätigkeit der letzten
Augenblicke waren seine Sinne in eine tiefe Er-
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schöpfung verfallen. Seine apathisch abschweifen-
den Gedanken gingen sonderbarerweise zu jenem
ersten Geschenk zurück, das er von Dora empfan-
gen.
»Das merkwürdige Stück Holz,« dachte er, je-
des einzelne Wort im Innern langsam nachspre-
chend, »– und jetzt dieses Buch. Sie hat unheimliche
Einfälle.«
Die Scene, die nun zu Ende gespielt, hatte mit ihrer
Schicksalsentscheidung, die keinen Widerspruch
mehr zuzulassen schien, auf Wel kamp die Wirkung
von langen Stunden seelischer Erregung geübt. Aber
sie war, wie so häufig die Entscheidung solcher inti-
men Dramen, durch nichts anderes als durch einige
Blicke und durch Momente des Schweigens vor sich
gegangen, und sie hatte nur wenige Minuten in An-
spruch genommen. Es wurde dem jungen Manne
durch das Erscheinen des aufwartenden Dieners, der
das Souper anmeldete, ermöglicht, sich aus seiner
Erstarrung aufzurichten. Er bot Dora, welche er
noch immer vor sich stehen sah, den Arm, um sie ins
Speisezimmer zu führen.
Bei Tische hatte Wellkamp, dessen Gedanken im-
mer aufs neue in der verbotenen, unvermeidlichen
Richtung abzuschweifen drohten, Mühe genug, eini-
germaßen den Ausführungen Herrn v. Grubecks zu
folgen, der seine Meinung über die künftige Einrich-
tung ihres häuslichen Lebens zum besten gab. Der
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alte Herr sprach in seiner frohen Laune lebhaft den
Wunsch aus, daß die jungen Leute sein und seiner
Gattin Leben, so wie sie es sich gestaltet, teilen
möchten. Es war ja eben geschehen, um die Unbe-
quemlichkeiten eines Haushaltes, mit Doras Ge-
wohnheiten und Neigungen durchaus unvereinbar,
zu umgehen, daß man ein boardinghouse bezogen
hatte. Dank der Bereitwilligkeit des Vorstehers
konnte man unabhängig von der übrigen, ausschließ-
lich englischen Gesellschaft die Mahlzeiten in den
eigenen Räumen gereicht erhalten, wie ja auch die
Bedienung eine private war. Überdies wurden alle
besonderen Wünsche ohne weiteres berücksichtigt.
»Und schließlich,« fuhr der Major, dem der
Wunsch, mit der einzig geliebten Tochter in fort-
währendem Verkehr zu bleiben, den Gegenstand be-
sonders wichtig machte, fort, »und schließlich müs-
sen wir etwas zu einander halten, damit wir auch
wirklich merken, daß unsere Familie jetzt statt aus
dreien, aus vier Gliedern besteht – fürs erste,«
konnte er sich nicht enthalten, leiser hinzuzusetzen,
während er sich vertraulich zu Wellkamp neigte.
Letzterer hatte den Worten seines Schwiegerva-
ters hin und wieder mit höflichem Lächeln zuge-
stimmt. Sie waren fast ausschließlich an ihn gerichtet
gewesen. Bei seiner Tochter setzte Herr v. Grubeck,
wie er schon früher zuweilen, halb scherzend, ange-
deutet, die größte Unlust voraus, ihre intellektuellen
Beschäftigungen zu gunsten einer
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