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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nachdem Al Frost seine dritte ungeschlagene
Saison beendet hatte. Doch in der Schulzeitung der Favorite River Academy stand
kein Wort über Al Frosts Rekord – oder dass Kittredges Versuch gescheitert war,
ihn einzustellen. In dreizehn Jahren hatte es in New England achtzehn Ringer
gegeben, die zweimal Meister wurden – darunter Kittredge. Hätte er eine dritte
Meisterschaft gewonnen, wäre das eine Premiere gewesen. »Gleichzeitig Premiere
und Abschiedsvorstellung«, wie Trainer Hoyt in unserer Schulzeitung zitiert
wurde. Wie sich herausstellte, war 1961 das letzte Jahr, in der eine
Ringermeisterschaft für Knaben aller Schulen New Englands stattfand. Ab 1962
führten die öffentlichen Highschools und die Privatschulen getrennte
Meisterschaften durch.
    An einem Vorfrühlingstag, als sich unsere Wege zufällig im Innenhof
kreuzten, fragte ich Herm Hoyt danach. »Es geht etwas verloren«, sagte der alte
Trainer. » Ein Wettbewerb für alle ist härter.«
    Ich fragte ihn auch nach Kittredge und ob er sich dessen beide
Niederlagen irgendwie erklären könne. »Der Kampf um den dritten Platzt war
Kittredge scheißegal«, sagte Herm. »Wenn er nicht alles gewinnen konnte, ging
es ihm am Arsch vorbei, ob er Dritter oder Vierter wurde.«
    »Und die erste Niederlage?«, fragte ich Trainer Hoyt.
    »Ich hab’s Kittredge immer wieder gesagt, es gibt immer einen, der
besser ist«, sagte der alte Trainer. »Und den Besseren kannst du nur schlagen,
wenn du zäher bist. Der andere war besser, nur war
Kittredge nicht zäher.«
    Mehr steckte offenbar nicht dahinter. Für Atkins und [444]  mich waren
Kittredges Niederlagen eine Enttäuschung. Als ich das Richard Abbott erzählte,
sagte der: »Genau wie bei Shakespeare, Bill; bei Shakespeare geschehen die
wichtigen Dinge auch größtenteils hinter der Bühne – und man bekommt sie nur
erzählt.«
    »Genau wie bei Shakespeare«, wiederholte ich.
    »Es ist trotzdem ernüchternd«, fand Atkins, als ich ihm erzählte,
was Richard gesagt hatte.
    Kittredges Selbstvertrauen wirkte allerdings kaum angeknackst; die
Niederlagen schienen ihm nicht viel auszumachen. Außerdem war es die Phase
unseres letzten Schuljahres, in der wir erfuhren, welche Colleges oder
Universitäten uns angenommen hatten. Die Ringersaison war vorbei.
    Favorite River gehörte nicht zu den renommiertesten Internaten New
Englands, und entsprechend bewarben sich die Schüler der Academy auch nicht bei
den renommiertesten Colleges oder Universitäten. Die meisten von uns gingen auf
kleine geisteswissenschaftlich orientierte Colleges, aber Tom Atkins sah sich
eher auf einer staatlichen Universität; eine kleine Lehranstalt hatte er
inzwischen kennengelernt und wollte jetzt lieber etwas Größeres – »eine Uni, wo man sich verlieren kann«, wünschte sich Atkins.
    Das Mich-verlieren-Können war mir weniger wichtig. Die Qualität des
Fachbereichs Englisch dafür umso wichtiger – und ob ich dort weiter die
Schriftsteller lesen konnte, mit denen Miss Frost mich bekannt gemacht hatte.
Außerdem war mir wichtig, in oder in der Nähe von New York zu sein.
    »Wo haben Sie studiert?«, hatte ich Miss Frost gefragt.
    »Irgendwo in Pennsylvania«, hatte sie mir geantwortet. [445]  »Der Name
sagt dir nichts.« (Das mit »Der Name sagt dir nichts« gefiel mir, aber am wichtigsten
war mir der Faktor New York.)
    Ich bewarb mich an jedem College und an jeder Universität in und um
New York, die mir einfielen – an denen, deren Name einem etwas sagte, und an
jenen, deren Name einem nichts sagte. Ich legte auch Wert darauf, mit jemandem
im Institut für Germanistik zu sprechen. Jeder meiner Gesprächspartner dort
versicherte mir, man würde mir behilflich sein, ein paar Auslandssemester in
einem deutschsprachigen Land zu verbringen.
    Ich ahnte bereits, dass ein Sommer in Europa mit Tom Atkins mich nur
weiter in meinem Wunsch bestätigen würde, möglichst weit weg von First Sister,
Vermont, zu leben. Es schien mir genau das zu sein, was ein zukünftiger
Schriftsteller tun sollte – nämlich in einem fremden Land zu leben, in dem eine
andere Sprache gesprochen wird. Gleichzeitig würde ich dort die ersten
ernsthaften Versuche unternehmen, in meiner Muttersprache zu schreiben, als
wäre ich der erste und einzige Mensch, der das je versucht hatte.
    Tom Atkins landete schließlich auf der Universität Massachusetts in
Amherst; es war eine große Uni, und Atkins gelang es, sich dort zu verlieren –
vielleicht mehr, als er gewollt oder

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