In ewiger Nacht
Besuchszeit. Die Patienten strömten zum Speisesaal. Mark wartete nicht auf den Pfleger mit dem Analgin, sondern trottete ans andere Ende des Flurs, wo es jetzt ruhig und leer war. Er ließ sich auf einer Bank nieder, schloss die Augen und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Plötzlich sagte eine leise Männerstimme: »Hallo. Lust auf ein bisschen Stoff?«
Ein Kerl um die dreißig setzte sich neben ihn, ein dicker Blonder mit Brille und einem ordentlich gestutzten Bärtchen. Er trug Jeans und Pullover. Über seinem Arm hing eine leichte schwarze Jacke.
»Wer bist du?«, fragte Mark.
»Ich will zu dir, Mark Chochlow«, flüsterte der Mann ihm ins Ohr.
Mark zuckte zusammen und spürte, wie etwas Hartes sich in seine Seite bohrte.
»Keine falsche Bewegung. Die Kanone hat einen Schalldämpfer. Wenn du dich rührst, schieße ich, und keiner hört einen Ton. Also, Folgendes: Die Adresse von zwei Wohnungen, von der, wo sich die Kunden mit deinen Kleinen amüsieren, und von der, wo du deine Filmchen drehst. In der Poleshajewskaja waren wir schon. Deine Irina lässt dich herzlich grüßen.«
»Du Schwein.«
»Also, wenn du die Adressen im Guten ausspuckst, gehst du als gesunder und reicher Mann hier raus. Wenn nicht, krepierst du.«
Mark verspürte plötzlich ein heftiges Bedürfnis nach Kokain. Nur eine kleine Prise, einen Teil geschnupft, einen Teil ins Zahnfleisch gerieben. Das gab sofort eine Kälte und Taubheit wie bei einer Betäubung, man konnte sich einen Zahn ziehen lassen, und es würde nicht weh tun. Überhaupt tatdann nichts mehr weh. Du bist ein Genie, ein Superman, ein Playboy, alle sind verrückt nach dir, nicht mal die Pistole mit dem Schalldämpfer an deiner Hüfte macht dir was aus.
Eine hohe Kinderstimme sang klar und deutlich:
Komm mit mir Kind und genieß,
alles dies
im Kokainpardies.
Es war Shenjas Stimme. Sie sang oft Songs von Vaselin. Manche gefielen Mark sogar. Besonders dieser.
Er fuhr sich mit der Zunge über das Zahnfleisch und dachte an den zartbitteren Geschmack der feinen weißen Kristalle.
Flieg hinauf, mein Kind, weit hinauf
Hoch ins Kokainparadies.
Shenjas Stimme war so klar, als säße sie hier auf der Bank. Der Blonde links von ihm, Shenja rechts.
»Du hast also das Gedächtnis verloren, ja? Brauchst du eine kleine Hilfestellung? Ein Schuss in die Leber, und du verreckst lange und mit Schmerzen. Also, ich zähle bis drei. Eins!«
»Bitte nicht«, zischte Mark und nannte langsam und deutlich beide Adressen.
»Na also«, lobte der Blonde, »war doch ganz einfach, Mann!«
Bei »Mann« ertönte ein weicher, dumpfer Plopp, als hätte nebenan jemand eine Flasche Champagner entkorkt. Der Blonde stand auf und ging gelassen den Flur entlang, ohne sich umzuschauen.
Mark verspürte keinen Schmerz, ihm stockte nur der Atem. Er wollte fragen: Was soll das? Er hatte doch beide Adressen genannt. Aber er bekam kein Wort heraus. Und konnte auch nicht mehr einatmen.
Langsam senkte sich Dunkelheit über den Flur. Schwarze Schatten flüsterten, ballten sich zusammen und wurden zu einem beweglichen Konus, dessen spitzes Ende sich in den Fußboden bohrte.
Mark wurde nach hinten geschleudert, wie in einem Auto, das in voller Fahrt abrupt bremst. Dichte schwarze Schatten umkreisten ihn. Er wollte sich losreißen, aber es zog ihn hinab, wie ein Holzspan oder eine Zigarettenkippe bei Regen durch einen Gulli in die Kanalisation gespült wird.
In der Ferne, hinter dem Strudel der Schatten, sah er ein Zimmer, eine breite Öffnung ohne Tür, Bänke, einen Fernseher unter der Decke. Das Zimmer schwebte schwerelos über ihm und drehte sich, sodass er einen Mann im braunen Pyjama von allen Seiten betrachten konnte.
Der Mann saß seltsam zur Seite geneigt da. Sein Mund war weit offen, seine Augen quollen heraus.
»Das bin ja ich! Wo bin ich? Warum? Ich habe doch alles gesagt!«
Durch eine anschwellende Welle neuer Laute, durch Geheul, Weinen, Lachen und Schreckensschreie hindurch sang eine helle Kinderstimme ihm ins Ohr:
Hallo, Kind, es ist Zeit für den Tod,
Weil dir sonst ja das Altern noch droht.
Stirb, flieg fort und verlass dein Verlies,
Flieg in dein Kokainparadies.
Zweiunddreißigstes Kapitel
In der Hotelwohnung fanden sie nichts Interessantes, bis auf die versteckte Kamera im Schlafzimmer, allerdings nicht im Kronleuchter, wie Ika gedacht hatte. Die kleinen Glitzerdinger wirkten wie Dekorativelemente am großen Rahmen des Spiegels gegenüber vom Bett.
Das
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