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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Vorschlag?«
    »Ich b-bin einverstanden. Aber nur, w-wenn er mich nicht hänselt. Ich k-kann nichts d-dafür, dass ich stottere, d-das ist nicht komisch!«
    »Das hast du falsch verstanden. Er ist nur sehr besorgt.«
    »Um m-mich?«
    »Um wen denn sonst?«

Dreiunddreißigstes Kapitel
    Nach einem so langen, anstrengenden Tag würde jeder Hominide vor Erschöpfung umfallen. Dem Wanderer genügten zwei Stunden, um wieder zu Kräften zu kommen. Er lag mit ausgebreiteten Armen vollkommen entspannt auf dem Fußboden, zählte seine Atemzüge und zwang sein Herz, gleichmäßig zu schlagen.
    Auch das war ein Ritual. Die Ruhe vor dem entscheidenden Sprung. Ein Versenken in die weichen Wellen des Lichts, ins Nirwana. Körper und Seele in vollkommener Harmonie. Keine Gedanken, keine Gefühle.
    Genau vierzig Minuten verbrachte er in diesem Zustand. Weitere zwanzig Minuten brauchte er für eine kühle Dusche und eine Rasur, um sich etwas Frisches anzuziehen und den Inhalt der Aktentasche zu überprüfen – Nachtsichtgerät, eine Flasche Babyöl, dünne Gummihandschuhe, eine Schere.
    Er hoffte, er würde keinem Nachbarn begegnen. Ein simples »Guten Abend« würde jetzt klingen, als ob mitten in einer genialen Sinfonie jemand hustete oder laut die Luft verpestete.
    Aber genau so ging es in der Welt der Hominiden eben zu.
    Auf dem Hof traf der Wanderer die alte Frau aus der Etage unter ihm, die ihren Dackel ausführte. Es war ein bösartigesTier; wenn sie zusammen Fahrstuhl fuhren, bleckte er die Zähne, knurrte, und sein kurzes Nackenfell sträubte sich. Hielte sein Frauchen ihn nicht auf dem Arm, würde er den Wanderer bestimmt ins Bein beißen. Ihm war schon lange aufgefallen, dass Hunde ein viel feineres Gespür für Fremde besaßen als ihre Halter.
    Vor vielen Jahren, nachdem er die Hominidin auf dem Dachboden getötet hatte, knurrte der riesige herrenlose Hund Juri – so hieß er nach Gagarin – ihn plötzlich an. Die Hominidin hatte Juri immer gefüttert. Bis heute erinnerte sich der Wanderer an den finsteren, durchdringenden Blick des Hundes, an das dumpfe Knurren, die gefletschten Zähne, die gelben Hauer und das gesträubte Nackenfell.
    Damals, mit sechzehn, war er nicht weggelaufen. Er war ganz ruhig vorbeigegangen, hatte sich mit aller Kraft gezwungen, keine Angst zu haben. Er hatte gelesen, dass das Blut des Menschen und folglich sein Geruch sich bei Angst veränderte. Wölfe und Hunde spürten das und griffen ihr Opfer dann an.
    Der Hund griff ihn nicht an, musterte ihn nur mit blutunterlaufenen Augen und rührte sich nicht von der Stelle. Der Junge begriff: Der Hund wusste Bescheid. Der Hund hasste und fürchtete ihn.
    Er kaufte ein Stück Leberwurst; zu Hause in der Kammer stand eine Büchse Rattengift. Überzeugt, dass der Hund von ihm nichts nehmen würde, bat er am nächsten Morgen, bevor er zur Schule ging, eine Nachbarin, Juri zu füttern. Sie war gerührt und brachte dem Hund die Wurst. Später sah er den Hauswart den Kadaver fortschaffen. Der Hund war alt gewesen und hatte ständig im Müll herumgewühlt, darum wunderte sich niemand, als er krepierte.
    Ein Hund war ein Symbol für Schmutz und Unzucht. Wenn ein Hund in eine Kirche lief, wurde er erschlagen, und die Kirche musste neu geweiht werden. Der Hund wachte über das Laster und spürte jede Gefahr. Davon hatte sich derWanderer schon oft überzeugen können. Er kam nie einem Hund zu nahe oder berührte ihn gar. Jeder Hund, dem er zufällig begegnete, ob herrenlos oder nicht, groß oder klein, alt oder jung, Rüde oder Hündin, begann sofort zu zittern, fletschte die Zähne und stellte die Nackenhaare auf. Die Mutigsten versuchten, ihn zu beißen.
    »Guten Abend«, sagte die alte Nachbarin.
    Der Dackel bellte diesmal nicht, als er den Wanderer witterte, sondern jaulte und zog den Schwanz ein.
    »Aber Tschapa, schämst du dich nicht? Hör sofort auf! Er ist doch kein Fremder!«
     
    Olga erklärte am Telefon lange und geduldig erst ihrem Sohn, dann ihrer Tochter, dass sie nicht sofort nach Hause kommen könne. Als ihr Mann den Hörer nahm, musste sie ein drittes Mal erklären, dass auf ihrer Station in der Klinik ein Mord geschehen war und sie jetzt bei der Miliz sei.
    »Wo genau?«
    »In der Petrowka.«
    »Bei Solowjow? Sag schon, Olga, bist du bei ihm?«
    Das war unerträglich. Dima saß vor ihr, in Papiere vertieft. Sie rief von seinem Apparat an, aus seinem Büro. Alexander räusperte sich nervös. Wahrscheinlich sollte sie lügen, etwas

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