In Ewigkeit verflucht
Durch das ausgeflossene Blut sah sein Gesicht ziemlich schlimm aus. Ein in warmem Wasser angefeuchteter Lappen sorgte dafür, dass das Blut recht schnell verschwand und die helle Haut wieder normal aussah. Während unserer Arbeit stöhnte der junge Mann mit dem dünnen Oberlippenbart vor sich hin. Er zuckte auch mal zusammen, aber er ließ uns gewähren, und wir bekamen zu sehen, um welch eine Wunde es sich handelte.
Sie befand sich an der Stirn. Und sie bildete einen Streifen, der sich vom Haaransatz bis zum Beginn der Augenbrauen hinzog. Senkrecht, ein Schnitt.
»Siehst du es, John?«
»Bin nicht blind.«
»Wie von einem Messer gezogen.«
Der Verletzte gab die Antwort. Er hockte in einem Sessel, und seine Arme hingen jenseits der Lehnen nach unten. Den Kopf hatte er zur Seite gedreht, der Mund stand halb offen, und auch als er sprach, änderte sich daran nicht viel.
»Das war kein Messer. Nein, das war es nicht.«
»Was dann?«, flüsterte Bill.
»Ein... ein... Beil.«
Er hatte nicht gelogen. Wir schauten uns an. Beide nickten wir, denn jetzt hatten wir die Bestätigung bekommen, dass es Reto Kirchner geschafft hatte, in dieses Hotel zu gelangen. Und es war ihm bereits gelungen, Zeichen zu setzen. Er hatte die Gegenwehr des jungen Mannes erstickt, dessen Vornamen wir auch erfuhren, als wir danach fragten.
Er hieß Kevin.
»Kanntest du ihn?«, fragte Bill.
»Nein, ich habe ihn nie zuvor gesehen.«
»Warum hat er dich angegriffen?«
»Er wollte etwas wissen.«
»Über wen oder was?«
»Es ging um Elisa. Er hat sie gesucht. Ich sollte ihm sagen, wo sie zu finden ist.«
»Hast du es getan?«
»Ja, aber nicht sofort. Erst später. Er wollte mir den Schädel spalten, wenn ich es nicht tue. Das hätte ich ihm auch zugetraut. Er steckte so voll Hass.«
»Befindet sich Elisa auch hier im Hotel?«
»Sicher. Alle haben wir hier unsere Zimmer. Auch Elisa. Sie hat das größte an der Ecke. Es steht ihr zu, denn sie ist unsere Königin. Sie ist großartig.«
»Welche Königin ist sie denn?«, fragte ich.
»Die Königin der Auserwählten.«
»Oh, das ist ungewöhnlich«, sagte ich. »Dann kann ich davon ausgehen, dass deine fünf Freunde und du die Auserwählten seid?«
»Das sind wir«, gab er zu und lächelte. »Es ist etwas Besonderes, zu ihnen zu gehören. Ich bin auch sehr froh, dass es so ist. Elisa wird uns den richtigen Weg zeigen. Hier oben. Hier in der Einsamkeit der Berge finden wir unser Glück. Hier werden wir zusammen in die Welten hineinschauen, die uns versprochen worden sind. Es ist das große Wunder, von dem auch Elisa gesprochen hat.«
»Hast du eine Ahnung, wie es aussehen könnte?«
Kevin sagte zunächst nichts. Er bewegte nur seine Augen. In seiner Kleidung kam er uns wirklich vor wie jemand, der den Regeln der normalen Welt irgendwie abgeschworen hatte.
»Ich weiß nicht, ob ich es euch sagen kann. Ihr gehört nicht dazu. Ihr dürft es nicht sehen.«
»Das verstehen wir«, sagte ich. »Wir werden es wohl auch nicht zu Gesicht bekommen, aber du kannst uns doch sagen, was euch erwartet. Das wäre wirklich nicht schlecht.«
»Wir sehen das Jenseits. Wir sehen den Tod. Wir können ihn betrachten. Er wird keinen Schrecken mehr für uns haben. Wir werden ihn nie mehr zu fürchten haben.«
»Hat Elisa euch das versprochen?«
»Es ist unser Credo. Auf ewig ohne Angst vor dem Jenseits zu sein. Das ist nicht vielen Menschen vergönnt.«
»Richtig«, sagte ich, »aber man kann auch auf ewig verflucht sein. Was ebenfalls gefährlich ist.«
»Wir sind nicht verflucht.«
»Ihr nicht. Aber was ist mit Elisa? Kann sie keine Verfluchte sein?«
Meine Frage hatte ihm nicht gefallen. »Wie kannst du das nur sagen? Sie ist eine Göttin. Sie steht im hellen Licht des Jenseits. Bei ihr ist alles perfekt. Sie hat uns die Augen geöffnet und den richtigen Weg gezeigt. Sie hat uns angstlos gemacht, und wir werden ihr folgen. Es ist etwas Wunderbares, ohne Angst vor dem Tod leben zu können. Darüber solltet ihr nachdenken.«
»Werden wir auch tun«, sagte ich. »Aber unsterblich seid ihr nicht? Oder hat Elisa euch das auch versprochen?«
»Nein. Nur die Freude auf das Jenseits, in dem wir willkommen sind.«
Ich lächelte, weil ich ihn beruhigen wollte. »Das kann ich verstehen. Gibt es schon einen Termin für eure Reise in das Jenseits?«
»Ja. Wir werden es sehen können.«
»Wann?«
In dieser Nacht noch. Wir gehen ins Freie. Wir werden die Natur genießen, und wir werden erleben, dass man
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