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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Gardiner, Sie müssen mir die Wahrheit sagen. Ich habe heute geschwiegen, weil ich nichts gegen Tobias in der Hand hatte. Er weiß es, aber wenn ich offen gegen ihn antrete und verliere, dann werden die Geschworenen es ebenfalls wissen. Jetzt glauben sie, dass ich nur auf einen günstigen Zeitpunkt warte. Aber ich tappe nach wie vor im Dunkeln. Ich habe keine Ahnung, was Tobias wissen könnte, das ich nicht weiß. Oder was er vielleicht entdecken könnte – was noch schlimmer ist.«
    Sie wandte sich halb von ihm ab. »Nichts. Es gibt nichts, was er entdecken könnte.«
    »Er könnte herausfinden, wer James Treadwell getötet hat!«, sagte er scharf. Die Zeit für Rücksichtnahme war vorüber.
    Jetzt drehte sie sich langsam zu ihm um. »Das bezweifle ich, Sir Oliver. Man würde es nicht glauben, selbst wenn ich es sagen würde. Aber das werde ich nicht tun. Vertrauen Sie mir, es würde mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken. Ich habe keine Beweise, und alle Beweise, die sie in Händen halten, sprechen, wie Sie bereits gesagt haben, gegen mich.«
    In der Zelle war es stickig, aber er fröstelte.
    »Es ist meine Aufgabe, die Geschworenen dazu zu bringen, Ihnen zu glauben.« Noch während er diese Worte aussprach, befürchtete er, dass sie ihm gar nicht mehr zuhörte. »Wollen Sie mir nicht wenigstens erlauben, es zu versuchen?« Er klang verzweifelt.
    »Es tut mir Leid, dass Sie mir nicht glauben«, erwiderte sie leise. »Aber es ist wahr, dass eine solche Enthüllung mehr Schmerz verursachen als Gutes bewirken könnte. Akzeptieren Sie zumindest, dass ich lange und sehr gründlich darüber nachgedacht habe, bevor ich meine Entscheidung getroffen habe. Mir ist klar, dass man mich hängen wird. Ich mache mir keine Illusionen, dass irgendein Wunder mich retten würde. Und Sie haben mich weder belogen noch mir Sand in die Augen gestreut, um mir Mut zu machen. Dafür danke ich Ihnen.«
    Ihre Dankbarkeit war wie eine Zurückweisung und erinnerte ihn daran, wie wenig er wirklich für sie getan hatte. Er würde nicht mehr sein als eine Galionsfigur, welche die Buchstaben des Gesetzes erfüllte, nach dem Angeklagte einen Verteidiger benötigten. Die Staatsanwaltschaft hätte Tobias gar nicht hinzuziehen brauchen, dachte Rathbone. Jeder Anfänger hätte diesen Fall übernehmen und ihn, Rathbone, in seine Schranken weisen können.
    Er stellte fest, dass er zitterte und seine Hände zu Fäusten geballt waren. »Es sind nicht nur Sie, die hängen wird – auch Cleo Anderson wird dieses Schicksal ereilen!«
    Ihre Stimme brach. »Ich weiß. Aber was soll ich tun?« Sie sah ihn an, und in ihren Augen standen Tränen. »Wenn Sie wollen, werde ich aussagen, dass ich bei dem Mord zugegen war und dass nicht sie es war, die Treadwell getötet hat. Aber wer würde mir glauben? Die Leute denken doch, wir seien Komplizen! Sie erwarten von mir, dass ich Cleo verteidige. Ich kann nicht beweisen, dass sie nicht dort war, und ich kann nicht beweisen, dass er sie nicht erpresst hat oder dass sie die Medikamente gestohlen hat. Sie hat es getan!«
    Was sie sagte, war die Wahrheit.
    »Jemand hat Treadwell ermordet.« Er wählte seine Worte mit Bedacht, um ihr absichtlich Schmerz zuzufügen, damit sie sich ihm endlich anvertraute.
    »Wenn nicht Sie oder Cleo den Mord begangen haben, kommt meiner Meinung nach nur noch ein Mensch in Frage, für den Sie sterben würden, um ihn zu schützen: Lucius Stourbridge.«
    Ihre Augen weiteten sich, und der letzte Rest von Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie war zu entsetzt, um zu antworten.
    »Wenn Sie für ihn hängen wollen«, fuhr er fort, »dann ist das Ihre Sache – aber ist er wirklich auch Cleo Andersens Leben wert? Hat sie das verdient?«
    Sie fuhr zu ihm herum, mit vor Zorn funkelnden Augen und verzerrten Gesichtszügen.
    »Lucius hatte nichts damit zu tun! Ich versuche nicht, Treadwells Mörder zu schützen! Wenn ich ihn hängen sehen könnte, würde ich ihm das Seil eigenhändig um den Hals legen, die Falltür aufschnappen lassen und zusehen, wie er hinabstürzt!« Sie holte schluchzend Atem. »Ich kann nicht! Gott helfe mir – es gibt nichts – nichts, was ich tun kann! Und jetzt gehen Sie und lassen Sie mir meine Ruhe.«
    Andere Fragen drängten an die Oberfläche seines Bewusstseins, aber vor Kummer und Verzweiflung fehlten ihm die Worte. Er wünschte sich so sehr, ihr helfen zu können, nicht um seines Rufs oder seiner Ehre willen, sondern lediglich um ihren Schmerz zu lindern, den er geradezu

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