In Nomine Mortis
meinem Herzen nichts
bedeuteten, ob der Inquisitor schon zu so früher Stunde das Kloster
verlassen hatte. Oder war er womöglich seit gestern gar nicht zurückgekehrt?
Ich erschauderte und hatte einen Augenblick lang die Vision, dass Meister
Philippe für meine Sünden büßen musste: Denn was wäre,
wenn ihm gestern Abend oder in der vergangenen Nacht etwas zugestoßen
war? Was wäre, wenn der Finstere ihn geholt hatte, nicht mich, weil
er in der Nacht den Mönchshabit des Inquisitors mit dem meinen
verwechselt hatte?
Vermisste schon jemand
Philippe de Touloubre? Sollte ich mit dem Prior reden? Oder wäre es
eher im Sinne des Inquisitors gewesen, wenn ich nicht mit Bruder Carbonnet
sprechen würde, um ihn gar nicht erst auf das Fehlen von Meister
Philippe hinzuweisen? »Oh HERR«, murmelte ich, »sende
mir ein Zeichen. Was soll ich tun?«
Doch GOTT erhörte mein
Flehen nicht. Die Prim ging zu Ende und nichts gab es, das ich als SEIN
Zeichen hätte deuten können. So beschloss ich, dem Prior zwar
nichts zu sagen, das Kloster jedoch zu verlassen, um in der Stadt nach
Meister Philippe Ausschau zu halten. Es gelang mir ohne Schwierigkeit, vom
Prior die Erlaubnis einzuholen, mit einem Bruder, dessen Name Malachias
war, zum Einkaufen heilkräftiger Kräuter entsandt zu werden.
Jener Malachias war aus Toulouse nach Paris geflohen. Wir hatten schnell
herausgefunden, dass er sich besser noch als unser Apotheker auf das
Mischen von allerlei heilenden Aufgüssen und lindernden Tees
verstand. Doch da ein Geschwür seine Oberlippe aufgerissen hatte,
sprach er sehr undeutlich; auch wollten viele Marktweiber gar nicht mit
ihm reden, weil sie ihn für verflucht hielten. Deshalb entbot ich
mich denn, Bruder Malachias zu begleiten.
Da seine Lippe ihn so sehr
hinderte, sprach Bruder Malachias nicht mehr Worte, als unbedingt
notwendig war. So verließen wir schweigend und noch zu früher
Stunde das Kloster in der Rue Saint-Jacques. Nach dem Gewitter war die
Luft kühl, klar und angenehm frisch. Das Straßenpflaster glänzte
sauber, da der Unrat vom Wolkenbruch in die Seine gespült worden war.
Nur die überall niedergebrannten Scheiterhaufen störten den
Eindruck von Reinheit: Schwarz und stumpf war das Holz und es roch bitter
nach nassem Rauch. Auf der Straße war es ruhiger, als ich es je
zuvor erlebt hatte. Viele Bürger lagen nach den Tänzen, der
Musik und wohl auch anderen Vergnügungen der Johannisnacht, noch in
ihren Betten. Mönche und Priester gingen zahlreich hierhin und
dorthin, Marktweiber strebten den großen Plätzen zu, auch ein
paar Diener und dazu Bauern, die Hühner und Kirschen verkaufen
wollten. Dann und wann taumelte, noch benommen vom Wein, ein Zecher aus
einer dunklen Gasse, blinzelte in der Sonne und machte sich rasch auf den
Heimweg. Doch all dies war nichts im Vergleich zum lärmenden
Durcheinander normaler Pariser Tage - und erst recht nichts im Vergleich
zum Gedränge, das in den letzten Wochen geherrscht hatte.
Plötzlich machte ich
noch eine Feststellung, die mich mindestens genauso beunruhigte: Es gab an
jenem Tag keine neuen Flüchtlinge mehr, die zuvor doch stetig durch
eines der vielen Stadttore hineingeströmt waren. Es war, als wäre
eine menschliche Flut von einem Tag zum anderen versiegt.
Manchmal blickte ich mich
unauffällig um — stets hoffend, dass irgendwann doch die ersten
Bauern, die ersten Bürger anderer Städte beladen mit
Habseligkeiten hinter Karren und Wagen durch die Straßen wanken würden.
Doch niemand kam. Paris lag still da und, so unglaublich dies klingen mag,
beinahe leer. Es war, als gäbe es im Land um die Stadt keine Menschen
mehr.
Bruder Malachias und ich
schritten die Rue Saint-Jacques hinab Richtung Seine, bogen allerdings
schon vor der Kirche Saint-Severin nach rechts ab. Es war nicht sehr weit
von dort bis zur Place Maubert, einem Platz, geformt wie eine riesige
Pfeilspitze, deren scharfes Ende stadtauswärts wies. Sein einziger
Zierrat war die Croix Hemon, ein großes, steinernes Kreuz. Mich
schauderte, denn es sah aus, als hätte Jesus leibhaftig dort hängen
können, so düster und groß war es. Überhaupt war die
Place Maubert übel beleumundet, lag hier, an der kleinen, auf den
Platz führenden Rue Coupe-Geule, doch das Kollegium, das der königliche
Kaplan Robert de Sorbon vor über einem Jahrhundert für
mittellose Studenten
Weitere Kostenlose Bücher