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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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meinem Herzen nichts
     bedeuteten, ob der Inquisitor schon zu so früher Stunde das Kloster
     verlassen hatte. Oder war er womöglich seit gestern gar nicht zurückgekehrt?
     Ich erschauderte und hatte einen Augenblick lang die Vision, dass Meister
     Philippe für meine Sünden büßen musste: Denn was wäre,
     wenn ihm gestern Abend oder in der vergangenen Nacht etwas zugestoßen
     war? Was wäre, wenn der Finstere ihn geholt hatte, nicht mich, weil
     er in der Nacht den Mönchshabit des Inquisitors mit dem meinen
     verwechselt hatte?
    Vermisste schon jemand
     Philippe de Touloubre? Sollte ich mit dem Prior reden? Oder wäre es
     eher im Sinne des Inquisitors gewesen, wenn ich nicht mit Bruder Carbonnet
     sprechen würde, um ihn gar nicht erst auf das Fehlen von Meister
     Philippe hinzuweisen? »Oh HERR«, murmelte ich, »sende
     mir ein Zeichen. Was soll ich tun?«
    Doch GOTT erhörte mein
     Flehen nicht. Die Prim ging zu Ende und nichts gab es, das ich als SEIN
     Zeichen hätte deuten können. So beschloss ich, dem Prior zwar
     nichts zu sagen, das Kloster jedoch zu verlassen, um in der Stadt nach
     Meister Philippe Ausschau zu halten. Es gelang mir ohne Schwierigkeit, vom
     Prior die Erlaubnis einzuholen, mit einem Bruder, dessen Name Malachias
     war, zum Einkaufen heilkräftiger Kräuter entsandt zu werden.
     Jener Malachias war aus Toulouse nach Paris geflohen. Wir hatten schnell
     herausgefunden, dass er sich besser noch als unser Apotheker auf das
     Mischen von allerlei heilenden Aufgüssen und lindernden Tees
     verstand. Doch da ein Geschwür seine Oberlippe aufgerissen hatte,
     sprach er sehr undeutlich; auch wollten viele Marktweiber gar nicht mit
     ihm reden, weil sie ihn für verflucht hielten. Deshalb entbot ich
     mich denn, Bruder Malachias zu begleiten.
    Da seine Lippe ihn so sehr
     hinderte, sprach Bruder Malachias nicht mehr Worte, als unbedingt
     notwendig war. So verließen wir schweigend und noch zu früher
     Stunde das Kloster in der Rue Saint-Jacques. Nach dem Gewitter war die
     Luft kühl, klar und angenehm frisch. Das Straßenpflaster glänzte
     sauber, da der Unrat vom Wolkenbruch in die Seine gespült worden war.
     Nur die überall niedergebrannten Scheiterhaufen störten den
     Eindruck von Reinheit: Schwarz und stumpf war das Holz und es roch bitter
     nach nassem Rauch. Auf der Straße war es ruhiger, als ich es je
     zuvor erlebt hatte. Viele Bürger lagen nach den Tänzen, der
     Musik und wohl auch anderen Vergnügungen der Johannisnacht, noch in
     ihren Betten. Mönche und Priester gingen zahlreich hierhin und
     dorthin, Marktweiber strebten den großen Plätzen zu, auch ein
     paar Diener und dazu Bauern, die Hühner und Kirschen verkaufen
     wollten. Dann und wann taumelte, noch benommen vom Wein, ein Zecher aus
     einer dunklen Gasse, blinzelte in der Sonne und machte sich rasch auf den
     Heimweg. Doch all dies war nichts im Vergleich zum lärmenden
     Durcheinander normaler Pariser Tage - und erst recht nichts im Vergleich
     zum Gedränge, das in den letzten Wochen geherrscht hatte.
    Plötzlich machte ich
     noch eine Feststellung, die mich mindestens genauso beunruhigte: Es gab an
     jenem Tag keine neuen Flüchtlinge mehr, die zuvor doch stetig durch
     eines der vielen Stadttore hineingeströmt waren. Es war, als wäre
     eine menschliche Flut von einem Tag zum anderen versiegt.
    Manchmal blickte ich mich
     unauffällig um — stets hoffend, dass irgendwann doch die ersten
     Bauern, die ersten Bürger anderer Städte beladen mit
     Habseligkeiten hinter Karren und Wagen durch die Straßen wanken würden.
     Doch niemand kam. Paris lag still da und, so unglaublich dies klingen mag,
     beinahe leer. Es war, als gäbe es im Land um die Stadt keine Menschen
     mehr.
    Bruder Malachias und ich
     schritten die Rue Saint-Jacques hinab Richtung Seine, bogen allerdings
     schon vor der Kirche Saint-Severin nach rechts ab. Es war nicht sehr weit
     von dort bis zur Place Maubert, einem Platz, geformt wie eine riesige
     Pfeilspitze, deren scharfes Ende stadtauswärts wies. Sein einziger
     Zierrat war die Croix Hemon, ein großes, steinernes Kreuz. Mich
     schauderte, denn es sah aus, als hätte Jesus leibhaftig dort hängen
     können, so düster und groß war es. Überhaupt war die
     Place Maubert übel beleumundet, lag hier, an der kleinen, auf den
     Platz führenden Rue Coupe-Geule, doch das Kollegium, das der königliche
     Kaplan Robert de Sorbon vor über einem Jahrhundert für
     mittellose Studenten

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