In Nomine Mortis
kannten dieses Land nicht. War es also ein Reich,
das nur in der Fantasie existierte? Aber warum hätte es dann jemand
aus einem alten Manuskript tilgen sollen? Warum sollte ein sterbender Mönch
gerade diesen Namen mit seinem Blut schreiben? Doch wenn es kein Land war,
das Seeleute ansteuern konnten — was mochte sich dann dahinter
verbergen? War es ein Rätselwort? Musste ich nur die Buchstaben
anders ordnen, um zur wahren Bedeutung vorzustoßen?
Ich folgte diesem Gedanken
eine Zeit lang und schrieb in meinem Geist wohl eine Stunde oder mehr die
Buchstaben der beiden Wörter in immer neuer Reihenfolge nieder
— vergebens. Schließlich wusste ich mir keinen anderen Rat,
als zu hoffen, in anderen Büchern eine neue Spur zu entdecken. Wie
viele Werke über Geografie mochte es geben? Ich hatte mich stets für
die Theologie interessiert, weniger für die Beschaffenheit dieser
Welt. So konnte ich die Zahl gelehrter Werke in diesem Feld nicht schätzen.
Mochten es Dutzende sein? Hunderte?
Die Bibliothek des Nechenja
ben Isaak, der solcherart Bücher, wie seine Tochter mir verraten
hatte, zu schätzen wusste, umfasste wohl mehr als einhundert
Folianten. Gerne wäre ich zu ihm gegangen und hätte sie in aller
Ruhe studiert. Doch konnte ich es wagen, jetzt, da die Bürger jeden
Juden mit mehr als nur dem althergebrachten Hass verfolgten, bei einem jüdischen
Geldwechsler einzukehren? Was mochte geschehen, wenn mich jemand sähe?
Hätte ich eine
offizielle Begründung gehabt, es wäre sicherlich einfach
gewesen. Als Inquisitor hätte ich sagen können, dass ich weitere
Spuren in den Todesfällen verfolgte. Doch ich hatte ja gerade
versprochen, den Geldwechsler und seine Tochter, wenn es mir irgendwie möglich
war, von den Händen der Inquisition fernzuhalten. Nein, ich durfte
Lea und ihren Vater nicht gefährden. Also blieb mir nur, zum
Kollegium de Sorbon zurückzukehren. Auch dort mochten wohl viele
Werke über Geografie zu finden sein. Vielleicht, so hoffte ich, würde
eines von ihnen mir einen neuen Hinweis enthüllen.
Es war wohl schon beinahe
Mitternacht, da ich endlich Ruhe im Geiste fand. Ich griff zur Heiligen
Schrift, um die Worte des HERRN in meine Seele zu lassen, bevor meine
Augen sich schlössen. Über der Offenbarung des Johannes schlief
ich endlich ein. Ich weiß noch, welche Sätze es waren, denn ich
träumte gar viel von ihnen in jener Nacht. Da ich nicht an Zufälle
glaube, war es sicherlich ein Zeichen GOTTES, das er mir sandte. Ich aber
war blind und erkannte es damals nicht, obwohl es mir doch heute so
deutlich scheint wie die Sonne am helllichten Tag:
Et vidi alium angelum
fortem descendentem de caelo amictum nube et iris in capite eins etfacies
eins erat ut sol et pedes eins tamquam columna ignis et habebat in manu
sua libellum apertum et posuit pedem suum dextrum supra mare sinistrum
autem super terram et clamavit voce magna quemadmodum cum leo rugit et cum
clamasse locuta sunt septem tonitrua voces suas.
12
DER ENGEL DER FINSTERNIS
Mein Plan, am nächsten
Tag in Büchern nach dem Land der Periöken zu suchen, ging wieder
nicht auf. Stattdessen musste ich durch Ströme von Blut waten. Nach
dem Morgenmahl erblickte ich endlich wieder Meister Philippe. Der
Inquisitor eilte auf mich zu; seine Kutte war staubbedeckt, sein Gesicht
gerötet.
»Fühlst du dich
wieder wohl, Bruder Ranulf?«, fragte er mich. »Ja«,
antwortete ich. Freude und Schrecken zugleich durchfuhren mich. Freude, da
ich ahnte, dass ich endlich wieder mit Meister Philippe auf die Jagd nach
dem Verbrecher gehen durfte. Schrecken, weil es inzwischen so viele Dinge
zu verheimlichen galt, dass ich mich schon fürchtete, mit dem
Inquisitor zu sprechen — aus Angst, dass mich ein unbedachtes Wort
verraten könnte.
Sollte ich ihm von der terra perioeci berichten? Doch wie ich es auch in
meinem Geiste wenden mochte, mir fiel keine Geschichte ein, mit der ich
ihm zwar von jenem geheimnisvollen Land hätte berichten können,
gleichzeitig jedoch jede Anspielung auf die Tochter des Geldwechslers oder
gar die Gattin des Reeders vermieden hätte. Es stellte sich
allerdings sogleich heraus, dass ich auch gar keine Zeit hatte, mir eine
Ausrede einfallen zu lassen. Denn der Inquisitor nickte nur erfreut und
fasste meinen Arm, um mich aus dem Speisesaal zu drängen.
»Wir müssen uns
eilen!«, flüsterte
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