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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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Lange starrte ich auf den Fetzen Pergament, der mir anzeigte,
     dass hier noch vor kurzem eine Spur gewesen war, die mich vielleicht zur terra perioeci geführt hätte. Was
     sollte ich nun tun? Ich fühlte mich müde und besiegt.
    Doch dann sagte ich mir, dass
     der HERR mir zürnen würde, ließe ich mich von meiner Schwäche
     überwältigen. Also studierte ich, wiewohl ich keine große
     Hoffnung hegte, die Seiten des Castorius, welche die unbekannte Hand
     unangetastet gelassen hatte. Es war, wie ich befürchtet hatte: Nichts
     stand dort vom Land der Periöken, noch fand ich irgendetwas anderes,
     das mir hätte weiterhelfen können. So beschloss ich denn, da
     endlose Stunden vor mir lagen, dass ich meine Nachforschungen
     systematischer gestalten müsse. Die größte Autorität
     der Alten war der Philosoph Aristoteles. Noch Albertus Magnus und Thomas
     von Aquin hatten ihn, wiewohl ein Heide, in höchsten Tönen
     gepriesen. »Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise
     gezweifelt haben«, hatte der Philosoph verkündet.
    Wiewohl mir dies lange ein höchst
     zweifelhafter, ja gefährlicher Satz dünkte, so glaubte ich nun,
     dass er das Wesen der Wahrheit enthielt. Unbestechlich war die Logik des
     Aristoteles, unvergleichlich sein Wissen — und sein Werk so groß,
     dass ich hoffen durfte, dort etwas zu finden, das dem Unbekannten, welcher
     alle Bücher heimsuchte, entgangen war.
    Das erste Buch, dem ich mich
     deshalb nun zuwandte, war die Studie »Vom Himmel« des
     Aristoteles. »Die Form der Erde ist notwendigerweise kugelförmig«,
     las ich da.
    Dies hatte ich schon bei
     Lambert von Saint-Omer im »Liber floribus« gelesen - jenem
     Werk des gelehrten Domherrn, das Heinrich von Lübeck kurz vor seinem
     Tod aus der Bibliothek des Nechenja ben Isaak ausleihen oder doch
     wenigstens kopieren wollte. So stimmte es also, dass dieser Christ sich
     auf den Heiden berief und dass sehr viele Gelehrte glaubten, dass die Erde
     eine Kugel sei.   
    Es fiel mir schwer zu
     glauben, dass ich auf der Oberfläche einer großen Kugel
     herumwanderte. Hatte nicht der ehrwürdige Kirchenvater Lactantius in
     seinem Buch »Divinae
     institutiones« verkündet, dass die Erde eine Scheibe sei? Sprach nicht der
     Augenschein dafür? Doch wenn die Erde eine Kugel war, dann mochte es
     doch wohl möglich sein, dass irgendwo jenseits des gekrümmten
     Horizonts ein Land zu finden sei, das unserem Blick bislang entgangen war.
     Sollte die Erde eine Scheibe sein, dann würde derjenige, der über
     ihr Ende hinaussegelte, unweigerlich in den schrecklichsten Abgrund stürzen.
     War sie jedoch eine Kugel, dann mochte man mit einem Schiff wohl überall
     hin gelangen, wo Wasser zu finden war.
    Andererseits war mir damit
     allein noch nicht geholfen. Aristoteles wusste wohl viele kluge Worte zu
     gebrauchen über die Form der Erde, der Sphären und der Sterne -
     doch von einem Land der Periöken schwieg er. Auch fand ich in seinen
     Büchern, so sehr ich auch suchte, keine verräterischen Stellen,
     die darauf hingedeutet hätten, dass jemand eine Seite
     herausgeschnitten haben mochte. Also bat ich den Bibliothekar, nach vielen
     langen Stunden mit den Werken des Aristoteles, mir die dreizehn Bücher
     des Ptolemaeus zu bringen. Auch er war Heide gewesen, doch ohne Zweifel
     der größte Geograf der Alten. Schon als Kind in der
     Klosterschule hatte ich seine Texte studieren müssen. Bis in unsere
     Zeit gilt er doch als der größte Kundige von der Beschaffenheit
     der Erde, der je gelebt hat. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis
     Magister Jean Froissart zurückkehrte. Noch dazu kam er mit leeren Händen
     und einem Gesicht, das vor Blässe glänzte wie ein Totenschädel,
     zurück.
    »Der Ptolemaeus ist
     verschwunden!«, verkündete er mir mit gebrochener Stimme.                  
    Ich glaubte, mich verhört
     zu haben. »Was redet Ihr da, Meister Froissart?«, erwiderte
     ich. »Acht große Bücher umfasst das Werk des Ptolemaeus.
     Ihr werdet doch sicherlich mehr als eine Abschrift davon aufbewahrt haben?«
    Der Bibliothekar nickte, dann
     hielt er sich am Schreibpult fest, denn Schwäche erfasste seinen Körper.
     »Alle Bücher sind verschwunden«, flüsterte er.
    »Ich habe in der Truhe
     nachgesehen, in der wir sie aufbewahrt haben, und noch in etlichen
     anderen, weil ich zunächst dachte, dass sie möglicherweise
     verlegt worden sein mochten. Doch es ist wahr: Das Werk des

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