In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
»Ich wollte nur auf die Packungsbeilage hinweisen. Diese Medikamente vertragen sich nicht mit Alkohol. Da kann es zu schlimmen Nebenwirkungen kommen.«
»Das werde ich beherzigen.« Das nächste Mal würde ich in einer anderen Apotheke einkaufen. »Wiedersehen.«
»Wäre schön«, sagte der Apotheker. Als ich an der Tür war, fügte er noch ein leises »Pampige Kratzbürste« hinzu.
»Das habe ich gehört«, sagte ich. Auf Polnisch.
»Glück ist etwas, das man zum ersten Mal
wahrnimmt, wenn es sich
mit großem Getöse verabschiedet.«
Marcel Achard
Der Apotheker hatte Recht. Ich benahm mich wirklich pampig und kratzbürstig. Und das Schlimme war: Die Gemeinheiten kamen mit voller Absicht über meine Lippen. Und dabei war ich früher mal so ein nettes Mädchen gewesen. Ehrlich: In meiner Familie war ich auch als »unser kleiner Sonnenschein« bekannt, und es gab kaum Fotos von mir, auf denen ich nicht liebenswert lächelte. (Ich hatte sogar Grübchen in den Wangen. Ob die wohl verschwinden, wenn man sie nicht mehr braucht? So wie Ohrlöcher, die wieder zuwachsen, wenn man keine Ohrringe trägt?)
Aber das war, bevor ich grundsätzlich auf alle Leute eine Stinkwut bekommen hatte, deren Mann nicht zufällig auch gerade gestorben war.
Allerdings war diese ungerechte Wut immer noch besser als die dumpfe Gleichgültigkeit, die mich in den Tagen direkt nach Karls Tod ergriffen hatte. Über Nacht war mir jegliches Zeitgefühl abhandengegangen, und ohne meineFamilie – meine Geschwister, meine Eltern und meinen engelsgleichen Schwager – wäre ich wohl verloren gewesen. Ab und zu aß oder trank ich etwas von dem, was Mimi mir vorsetzte, manchmal schlief ich für ein paar Minuten, und die Zeit dazwischen verging einfach irgendwie. Ronnie kam ebenfalls für ein paar Tage nach London, meine Eltern reisten aus Hannover an, auch mein Bruder kam über ein Wochenende, um beim Packen zu helfen. Die Einäscherung und die Gedenkfeier mussten organisiert, die Wohnung gekündigt, der Hausstand aufgelöst, eine Spedition gefunden werden. Denn ohne Karl gab es für mich keinen Grund, in England zu bleiben, und Mimi und Ronnie boten mir an, fürs Erste bei ihnen zu wohnen. (Meine Eltern boten mir das Gleiche an, aber weil sie Tür an Tür mit meinem Bruder und seiner Frau, der Kreissäge, wohnten, wählte ich – bei aller Gleichgültigkeit – das kleinere Übel.)
Ich musste nichts tun, nur ab und an den Kopf heben und »ja« oder »nein« sagen. Mehr verlangte niemand von mir.
In London kannte ich kaum jemanden, alle Leute, mit denen ich hier in den acht Wochen vor Karls Tod zu tun gehabt hatte, waren Bekannte oder Arbeitskollegen von Karl gewesen, Leute vom Courtauld Institute of Arts , wo er unterrichtete, ein Freund, der bei Sotheby’s arbeitete, Galeristen und Leute vom Museum. Sie alle kamen zu der Gedenkfeier, die meine Familie in meinem Namen organisiert hatte, ein Tag, den ich wie dick in Watte gepackt irgendwie hinter mich brachte.
Erst am Abend, als Mimi mir aus den schwarzen Klamotten half (manchmal kostete es in diesen Tagen einfach zu viel Kraft, auch nur einen einziges Knopf zu öffnen), fiel mir auf, dass niemand von Karls Familie da gewesen war, und für eine Sekunde dachte ich, wir hätten vergessen, ihnen zu sagen, dass Karl gestorben war. Aber Mimi versicherte mir, dass sienatürlich noch an Karls Todestag (als ich in eine Art Wachkoma gefallen war – mir fehlte jegliche Erinnerung an diese Stunden) überall angerufen habe und dass die Einladungen zur Gedenkfeier an alle Adressen aus Karls Adressbuch gegangen waren und an jedes seiner Kinder einzeln obendrein. Abgesehen davon habe sie länger mit Leo telefoniert und ihn gebeten, nach London zu kommen, um sich an der Organisation der Feier und der Abwicklung der Formalitäten zu beteiligen, aber das habe er nicht gewollt.
Es war für alle außer mir schwer zu glauben, dass niemand von Karls Familie es für nötig befunden hatte, zu seiner Beerdigungsfeier zu kommen, aber genau so war es. Meine Familie war peinlich berührt, entsetzt, enttäuscht und auch verärgert, nur ich glotzte apathisch vor mich hin und zählte die Rosen im Sofakissenmuster. (Dreiundfünfzig Rosen auf einem einzigen Kissen, neunzehn ganze und fünfzehn halbe Rosen auf der einen Seite, einundzwanzig ganze und elf halbe auf der anderen – wie war das möglich? Unerklärliche Phänomene, wohin man auch blickte.) Ich war nicht wirklich überrascht. Karl hatte seine Kinder in den
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