In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
»Schön. Dann wünsche ich dir viel Spaß. Und gute Erholung.« Wieder küsste er mich auf die Wange. Ich wagte es kaum zu hoffen, aber er ging tatsächlich zur Tür. Im Flur erst drehte er sich noch einmal zu mir um. »Vergiss nicht, einen Bikini einzupacken. Und bitte schreib mir eine Postkarte, ja?«
»Mach ich«, sagte ich, und Leo zwinkerte mir zu. Er dachte, ich hätte die Freundin nur erfunden, um mein Gesicht zu wahren. Um nicht wie jemand dazustehen, der sich mit Liebeskummer zu seinen Eltern verkroch, sondern wie jemand, der mit einer Freundin cool einen draufmachte. Auf Mallorca.
Er hatte Mitleid mit mir. Das war nicht schön, aber tausendmal besser als Wut. Oder Mordlust.
Mein schlechtes Gewissen brachte mich beinahe um, aber die Erleichterung, ihn gehen zu sehen, war stärker.
»Kopf hoch!«, sagte Leo noch, bevor er mit federnden Schritten die Treppe hinunterging. Sein Handy klingelte, und ein Stockwerk tiefer hörte ich ihn gutgelaunt »Hallo?« sagen.
Ich schloss die Tür und drehte mich zu meinem Koffer um. Das wäre geschafft. Jetzt musste ich nur noch fertig packen und ein Taxi rufen. Hoffentlich würden sie mir dieses Mal jemanden schicken, der nicht vollkommen durchgeknallt war.
Ich legte zwei Pullover und all meine Jeans in den Koffer, außerdem eine ziemlich zerfledderte Ausgabe von Jane Austens »Stolz und Vorurteil«, die ich so oft gelesen hatte, dass ich sie in weiten Passagen auswendig kannte. Als ich gerade mit mir rang, ob ich Schnuff, meinen alten Plüschhasen, mitnehmen sollte oder besser nicht, klingelte es wieder. Diesmal dreimal hintereinander.
Das Zimmer war nicht groß, man hatte es in ein paar Schritten durchquert, und ich hatte die Hand schon an der Klinke, als mir der Gedanke kam, dass das vielleicht wieder nicht meine Zimmernachbarin sein könnte.
»Mach auf, Carolin!«, rief Leo von draußen.
Mir wurde auf der Stelle eiskalt. Die Floskel »das Blut gefror ihr in den Adern« wäre hier die passende Formulierung. »Was willst du denn noch?«, fragte ich durch die geschlossene Tür, obwohl ich es genau wusste.
»Mach auf«, sagte Leo. »Ich hatte gerade einen Anruf von meinem Onkel Thomas.«
»Na und?« Lieber Himmel. War Leo zuzutrauen, dass er die Tür eintrat? Sicherheitshalber rückte ich die Kommode davor. Ich war ein bisschen von Sinnen, ohne Zweifel.
Leo hörte das Gerumpel. »Was machst du da drinnen? Mach sofort auf! Ich muss mit dir reden! Was hast du bei meinem Vater im Hotel gemacht? Woher wusstest du überhaupt, wo er wohnt?«
Ich sagte nichts.
»Carolin! Hast du mit meinem Vater geredet? Etwa über mich? Was soll das? Warum mischst du dich in Dinge ein, die dich gar nichts angehen? Und warum sagt Onkel Thomas, du hättest heute Morgen noch die gleichen Sachen angehabt wie gestern Abend? Mach die Tür auf!«
»Leo …«
»Mach die Tür auf! Onkel Thomas hat versucht, mir weiszumachen, dass du und mein Vater … dass ihr … dass ihr was miteinander habt. Ich meine, hahaha – hallo ? Wie lächerlich ist das denn? Ich kenne dich, das würdest du nie … ich meine, ausgerechnet du …, du bist doch wie ein … Carolin! Mach die Tür auf, ich möchte, dass du mir das erklärst.«
»Das kann ich dir nicht erklären«, sagte ich, und da schlug Leo mit der Faust gegen die Tür. Jedenfalls nahm ich an, dass es die Faust war. Möglicherweise war es aber auch sein Kopf.
Was hätte ich machen sollen? Hinterher habe ich mich das oft gefragt. Nun, es gab sicher eine Menge Optionen. Ich hätte die Tür aufmachen können – vielleicht hätten wir ja tatsächlich miteinander geredet. Oder ich hätte weiter durch die Tür mit Leo sprechen können. Auf jeden Fall hätte ich nicht mitsamt dem schweren Koffer, meiner Handtasche und dem Hasen Schnuffi durch das Fenster über die Feuerleiter in den Hof klettern müssen. Aber genau das tat ich. War übrigens gar nicht so einfach, weil die Feuerleiter eine Mannshöhe über dem Boden einfach endete. Ich musste den Koffer, die Tasche und den Hasen abwerfen, bevor ich hinterherspringen konnte. Dann schnappte ich mir den ganzen Kram und rannte davon, so schnell ich konnte. Das Handy in meiner Handtasche begann dabei wie verrückt zu klingeln.
»Wie glücklich würde mancher leben, wenn
er sich um anderer Leute Sachen
so wenig bekümmerte, wie um die eigenen.«
Oscar Wilde
Ich interpretiere dieses Zitat jetzt mal ganz frei als vornehme
Variante von »Neugier bringt einen um«. Was wiederum eine
Variante von »Wer sich
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