In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
gebührenden Freude quittierte, sondern nur ziemlich unhöflich fragte: »Aber ihr seid doch nicht auch noch im selben Hotel, oder?« (Im Grunde war es nur eine rhetorische Frage.)
»Das wird ein richtig toller Mädelsurlaub«, sagte die Kreissäge, die keine Freundinnen und schon gar keinen schwulen besten Freund besaß und die einem weniger hartherzigen Menschen als mir eigentlich hätte leidtun müssen. »Wir kaufen uns alle vier die gleichen Klamotten und machen die Insel unsicher.«
»Mit gehangen, mit gefangen«, flüsterte meine Mutter und schob mich gnadenlos durch die Absperrung.
Nun ja, es gibt sicher Schlimmeres, als sich im Frühjahrin einem Fünf-Sterne-Hotel auf einer Mittelmeerinsel aufzuhalten, muss ich sagen. Nach dem langen, kalten Winter in Deutschland waren das Licht, das viele Grün und die warme Luft einfach überwältigend schön.
Und wenn die Kreissäge mir einen ihrer endlosen Vorträge hielt (»Weißt du, im Grunde ist es ja noch nicht zu spät für dich, du kannst immer noch einen Mann kennen lernen und ein Kind bekommen und so deinem Leben einen Sinn geben. Nur für die arme Mimi muss es schwer sein – jetzt, wo sie auf die vierzig zugeht, sie muss sich doch von Gott verlassen und bestraft fühlen …«), ließ ich meinen Blick einfach an den Horizont gleiten und errechnete in Gedanken die Wurzel aus vierhundertdreiundzwanzigtausendzweihundert – bis auf drei Stellen hinter dem Komma.
Meine Nichte Eliane (»Gott, geht einem bei diesem Anblick nicht das Herz auf?«) hatte zu meiner Erleichterung die Angewohnheit, ihre Popel aufzuessen, aufgegeben, aber dafür wollte sie mir andauernd Zöpfe flechten und fing an zu weinen, wenn ich nach zwei Stunden Zieperei meinen Kopf wieder für mich haben wollte. (»Bitte, Eliane, wein jetzt nicht. Du kannst Omas Haare flechten, Oma sitzt auch ganz still. Ich habe dir vorher gesagt, dass die Tante Carolin nicht so nett zu Kindern ist, weil sie selber keine hat und nicht mehr weiß, wie das ist, eine verletzliche, kleine Kinderseele zu haben.«) Manchmal, wenn die Kreissäge mit Eliane zur Toilette ging, machten meine Mutter und ich uns aus dem Staub und verbrachten ein paar Stunden ohne die beiden. Das waren zweifellos die erholsamsten Stunden des Urlaubs.
Als wir nach zwei Wochen zurückkamen, hatte auch in Deutschland der Frühling begonnen.
»Wer lügt, hat die Wahrheit immerhin gedacht.«
Oliver Hassenkamp
Frau Karthaus-Kürten hatte eine Diät begonnen und war schlechter Laune.
»Jetzt sind wir aber lange genug auf der Stelle getreten«, sagte sie. »Heute wollen wir endlich mal über die Schattenseite Ihrer Ehe reden.«
»Wie bitte?«
»Kommen Sie, Carolin, das ist ganz normal nach einem Todesfall – zuerst sieht man nur, was man verloren hat. Aber nach einer gewissen Zeit sollte man auch in der Lage sein zu erkennen, was man gewonnen hat. Und in Ihren Fall ist das – na?«
»Geld?«
»Das meinte ich doch nicht!« Frau Karthaus-Kürten schüttelte ungehalten den Kopf. »Ich meinte: Freiheit! Jetzt, wo Ihr viel älterer, dominanter und egoistischer Ehemann gestorben ist, sind Sie endlich frei zu tun, was Ihnen gefällt.«
Die Frau war ein Idiot. Ich hatte es immer gewusst. Und sie war vollkommen unterzuckert. Mit jeder Minute wurde sie grantiger. »Ihre Schonzeit ist vorbei«, sagte sie.
Ich verwies hastig auf vierunddreißig glücklich machende Tätigkeiten in dieser Woche, zwanzig, wenn man die Cappuccinos nicht mitzählte.
Aber Frau Karthaus-Kürten winkte ab. »Sie können sich nicht nur den ganzen Tag belohnen! Wofür auch? Dafür, dass Sie überhaupt aufgestanden sind?«
»Äh – ja?«
»Wissen Sie überhaupt, wie viele Kalorien so ein Cappuccino mit Zucker hat? Der ist eine vollständige Mahlzeit!« Sie beugte sich vor und sah mich über den Schreibtisch hinweg gereizt an. »Wie lange kommen Sie schon zu mir? Soll das denn ewig so weitergehen? Können Sie irgendwelche Ergebnisse vorweisen? Nein! Sie wohnen immer noch bei Ihrer Schwester, die Erbschaftssache ist weiterhin ungeklärt und Sie haben immer noch keinerlei Vorstellungen darüber, was Sie beruflich machen können. So kann das doch nicht weitergehen.«
Tja, aber umgekehrt gilt das genauso. Sie sind immer noch entsetzlich unprofessionell, beziehen alles auf die eigene Person und streichen sich ständig die Haare aus der Stirn.
Frau Karthaus-Kürten kramte aus ihrer Schublade eine Tüte Bonbons hervor und legte sie vor sich auf die Tischplatte. »Ist es nicht
Weitere Kostenlose Bücher