Indische Naechte
geschehen?«
Er schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Ich weiß nicht. Wenn man der Schlange die Giftzähne ziehen kann, bevor es Blutvergießen gibt, könnte Rajiv Singh vielleicht seinen Thron halten, obwohl ich sicher bin, daß der Sirkar die Stärke seiner Armee heftig reduziert und notfalls mit Zwang verhindert, daß er sie wieder überschreitet.«
»Er ist ein Krieger, ein Rajputen-Fürst«, sagte sie traurig. »Glaubst du etwa, daß er ruhig zusieht, wie ihm die Giftzähne gezogen werden?«
Ian seufzte.
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es, nicht nur um seinetwillen, sondern auch wegen Kamala und Dharjistan.«
Laura wollte etwas antworten, als sie Schritte im Wohnzimmer hörten. Einen Augenblick befürchteten sie, sie wären belauscht worden, doch dann hörte sie Zafirs Stimme. »Major Sahib, bist du da?«
In seiner Stimme lag ein Ton, den Laura bisher nicht gekannt hatte. Ian mußte aber Bescheid wissen, denn er riß die Schlafzimmertür auf. »Hier. Was ist passiert?«
Zafir trat ein, Meera an seiner Seite. »Wir müssen mit dir sprechen, Huzar.« Er hatte das indische Äquivalent zu >Sir< benutzt, das uncharakteristisch und irgendwie unpassend schien. »Es ist sehr wichtig.«
»Dann sprich.«
»Wir... wir waren zufällig eben im königlichen Banyan.«
Ian zog die Brauen hoch. »Was zum Teufel habt ihr da gemacht? Ach, schon gut, ich kann’s mir denken. Ich nehme an, ihr habt etwas belauscht?«
Zafir nickte. »Eine Unterhaltung zwischen dem Maharadja und einem Afghanen. Sie sprachen Persisch, aber Meera versteht es. Und sie sagt, sie haben von einer Invasion Indiens gesprochen.«
»Verflucht!« Ian warf Laura einen kurzen Blick zu, und beide dachten das gleiche: Die Katastrophe war näher, als sie gedacht hatten. »Meera, gib ganz genau wieder, was du gehört hast.«
Laura hörte zu, während ihr Magen sich verkrampfte. Der Bericht des Mädchens machte aus Pjotrs hingekritzelten Notizen harte, grausame Wirklichkeit. Innerhalb weniger Tage würden die Afghanen eindringen und sich mit Zehntausenden gutbewaffneter Dharjistanis und Punjabis zusammentun. Sie würden das Feuer entfachen, das Indien verheeren würde. Wie viele Europäer würden einen solchen Holocaust überleben? Wie viele friedliche Einheimische würden sterben müssen, wenn die Hunde des Krieges erst einmal losgelassen waren?
Ian wurde, anders als Laura, ruhiger, je schlimmer die Lage sich entwickelte. Er hatte niemals so gefährlich auf sie gewirkt. Nachdem sie Zafir und Meera berichtet hatten, was sie bereits wußten, fragte er: »Weißt du, wo der Shpola-Paß ist?«
Zafir schüttelte den Kopf. »Ich habe den Namen schon gehört, aber ich weiß nicht genau, wo er sich befindet. Irgendwo im Afridi-Gebiet. Eben deswegen war ich nie dort.«
Ian dachte einen Augenblick konzentriert nach. »Also gut. Morgen verlassen wir Manpur. Wenn wir die Stadt hinter uns haben, wirst du mit den Frauen nach Süden reiten. Zu ihrer Sicherheit und um der Geschwindigkeit willen, bring Laura und Meera bei Habibur unter. Dann reite nach Cambay, such meinen Bruder und berichte ihm, was ich heute abend aufschreiben werde. Ich reite zur Grenze und versuche, diesen Paß zu finden. Wenn die Soldaten ankommen, kann ich sie direkt dort hinführen. Ein so kleiner Paß kann durch eine einzige Einheit geschlossen werden.«
»Sehr gut, Huzar«, sagte Zafir. Seine lustige Frechheit war gänzlich verschwunden. Er war zu einem todbringenden Krieger mit kalten Augen geworden.
Ian fuhr fort: »Wenn du gleich gehst, besorge mir auf dem Basar Stammestrachten, das, was man braucht, um die Haut zu färben, einheimisches
Zaumzeug für mein Pferd. Geh durch verschiedene Läden, so daß niemand Verdacht schöpfen kann. Du kennst das ja.«
Bevor der Pathane den Befehl bestätigen konnte, kam von Laura ein heftiges »Nein!«
Beide Männer wandten sich ihr zu. Zafir wirkte überrascht, Ian, der sie besser kannte, leicht verärgert.
Laura fixierte ihren Mann mit stählernen Augen. »Wenn du zur Grenze reitest, Ian, dann gehe ich mit.«
Einen Moment herrschte vollkommenes Schweigen. Dann sagte Ian mit ruhiger, aber entschiedener Stimme: »Das kommt nicht in Frage.«
Sie war genauso entschlossen wie er, allerdings weit weniger ruhig. »Du wirst nicht ohne mich gehen.«
Sie wollte noch etwas sagen, als Ian fauchte: »Genug jetzt!«
Als sein Blick zu dem Pathanen glitt, erkannte Laura, daß sie ihn nicht vor seinem Untergebenen herausfordern sollte. Und da sie seine
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