Ines oeffnet die Tuer
und mit Blattgold verziert und auf der Rückseite prangte eine Jugendstilzeichnung. Sie zeigte eine hübsche junge Frau mit hohen Wangenknochen und grau-grünen Augen. Ein wenig sah sie aus wie Agnes in jungen Jahren.
Von der Spiegelfläche konnte Ines nur einen Ausschnitt erkennen, denn der Spiegel war zur Seite gedreht. Doch er reflektierte das Deckenlicht, und Ines bemerkte feine Risse auf dem Glas und seine schwefelgelbe Verfärbung.
Wie alt mochte er sein?
Vorsichtig ging sie zu ihm und drehte ihn um. Das Gelenk zwischen Rahmen und Stange knirschte. Ines spürte leichten Widerstand. Aber schlieÃlich konnte sie in den Spiegel hineinblicken.
Sie riss die Augen auf.
»Das bin nicht ich«, flüsterte sie.
Sie wich einen Schritt zurück, ohne die Augen von ihrem Antlitz zu nehmen, das sich auf der rissigen, gelblichen Spiegelfläche abbildete.
»Das bin nicht ich â¦Â«
Aber sie war es. Ihr Gesicht war nur leicht verzerrt durch den trüben Spiegel. Sie sah ihren halb geöffneten Mund und ihre Hände, die sie abwehrend nach vorne streckte und jetzt langsam nach oben nahm, um ihre Haare zu berühren.
Ihre Haare â was war mit ihren Haaren geschehen?
Statt ihrer gewöhnlichen glatten Haare trug Ines Locken! Dichte pechschwarze Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen und im Deckenlicht glänzten, wundervoll vom Glanz des Spiegels umworben. Dichte und prächtige Locken, wie Carmen sie gehabt hatte, wenn sie früher auf der Opernbühne stand, nach langen Stunden in der Maske. Ja, es waren die Haare ihrer Mutter, die Ines schon als kleines Mädchen bewundert hatte. Die sie selbst gern gehabt hätte, seit sie denken konnte.
»Das bin ich?«
Ihre Hand tastete nach den Locken und sie wickelten sich wie von selbst um ihre Finger. Ines spürte nun auch ihr Gewicht, das leichte Ziehen der Kopfhaut, als sie mutiger hineingriff und daran zog, weil sie es nicht glauben konnte.
Mein Leben lang habe ich mir solche Haare gewünscht, dachte sie. Und nun geht es in Erfüllung? Kann das wahr sein?
Und die Locken standen ihr gut. Sie umrahmten ihr Gesicht und verliehen ihrem Antlitz etwas Ãgyptisches. Darunter funkelten die Ohrringe als onyxschwarze Blitze hervor, und mit jeder Drehung des Kopfes tanzten die Locken und betteten sich in einer neuen aufregenden Weise auf die Schultern und ihren Rücken.
Noch nie hatte Ines sich so schön gefunden.
»Wenn Sonne das sieht«, flüsterte sie. »Und Karol â¦Â«
Sie musste an die Geschichte denken, die Agnes ihr am Weiher erzählt hatte, wie sie sich für ein Rendezvous die Schuhe mit den Schmetterlingsschnallen gewünscht hatte.
Agnes hat die Schuhe aus dem Refugium mitgenommen, dachte Ines. Warum sollte das mit den Haaren nicht auch funktionieren?
Ihr Ãrger über Sonja war mit einem Mal verflogen. Ines warf einen letzten Blick in den Spiegel, übte ein Lächeln und war ganz bezaubert von sich selbst.
»Danke«, sprach sie laut in den Spiegel, aber sie meinte das ganze Refugium. »Ich habe keine Ahnung, wie du das machst und warum du meine Wünsche besser kennst als ich selbst, aber ⦠ich danke dir!«
Sie löschte das Licht und drückte die Klinke herab. Die Frau mit dem wehenden Gewand schmiegte sich in ihre Hand, als wollte sie Ines Mut machen. Aber den brauchte sie gar nicht mehr.
Sie trat aus der Tür in den Flur des Jugendklubs. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Tür zum Bandraum stand noch immer offen. Gerade war ein Song zu Ende. Die Zuhörer klatschten und pfiffen.
Ines fuhr sich durchs Haar, um sicherzugehen, dass die Locken noch da waren. Ja, sie konnte sie spüren â¦
Ein Raum, der Wünsche erfüllt, dachte sie. Und was für welche! Sonne wird Augen machen, wenn sie das sieht.
Â
15.
Schon als Ines den Bandraum betrat, merkte sie, wie ihr die Blicke zuflogen. Es waren nicht nur die Haare, sondern auch die Art, wie sie ging â die Schultern erhoben, den Kopf emporgereckt wie eine Löwin. Sie spürte, wie die Locken auf ihren Schultern wippten und alle sich nach ihr umdrehten. Sie fing den Blick des Schlagzeugers auf, der gerade den Takt für den nächsten Song angab â und sich prompt verspielte. Und sie bemerkte, wie selbst Anfisa herüberschaute â und staunte.
»Hat ein bisschen länger gedauert«, sagte Ines, als sie sich neben Sonja und Karol stellte. »Ich musste die Toiletten
Weitere Kostenlose Bücher