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Infanta (German Edition)

Infanta (German Edition)

Titel: Infanta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Bei Jacobson gestöbert. Bei Silberspiel. Bei Green. Bei Freud. Und war jetzt firm. Firm, um den Traum zu deuten. Oder war es etwa falsch, den Zusatz Aber deute ihn nicht als Gussmanns letzten Wunsch zu lesen, daß dieser Traum gedeutet werden möge? Der bleiche Priester hatte wenig Zweifel. Nachdem er die entnommenen Werke wieder in das von Dalla Rosa weitgehend sortierte Fach Conditio Humana eingereiht hatte, kündigte er seine Vorlesung Gussmanns Brief betreffend für den ersten beschwerdefreien Nachmittag an; Butterworth wollte nicht von Geschneuze gestört werden. Eine Woche nach der Beerdigung waren dann endlich alle soweit erholt. Sie saßen in den Korbsesseln auf der Terrasse, tranken ihren Eistee und sahen in einen fast schon zahm gewordenen Regen; später, zur Stunde des Drinks, wollte der frühere Gast zu Besuch kommen, den das Wetter bisher entschuldigt hatte. Es gab wieder Lichtblicke. Als das Kreuz von Hand zu Hand gegangen war und sie sich durch Tee und Gebet gestärkt fühlten, entfaltete Butterworth das Dokument und belehrte die anderen, daß nicht ein Traum Gegenstand der Traumdeutung sei, sondern der Traumrapport. »Wir haben also reinstes Material vor uns.«
    Er zog die Brillenbefestigung stramm und verlas dann den Text, wie er sonst aus Zeitungen zitierte, leise und monoton; er versprach sich an keiner Stelle, wich jedoch einmal vom Wortlaut ab, indem er Glied ins Lateinische übertrug. Butterworth hatte sich ausgemalt, nach dem Verlesen sofort durch eine Generaldeutung zu verblüffen, aber das Vortragen von Gussmanns Unbewußtem setzte ihm so zu, als stehe sein eigener Traum auf dem Blatt. Mit regelrecht durchblutetem Gesicht saß er da, während McEllis bemerkte, dieser Traum sei mehr als deutlich. Ja, eigentlich sei es schon kein Traum mehr – vielleicht habe Gussmann ihn auch erfunden. Auffallend sei jedenfalls die Umkehrung des Kastrationsmotivs.
    Hier hakte Butterworth ein, hier war er präpariert. Von einer Umkehrung könne gar keine Rede sein. Die Kastration sei im Gegenteil vollendete Tatsache. An einen Pfahl gebunden, sehe der Erzähler seiner Erschießung entgegen, und was im zweiten Teil größer und größer werde, sei nur das Entsetzen. »Denn er hat unser gemeinsames Tabu gebrochen«, sagte Butterworth und ließ eine Pause folgen, in der er selbst einem Träumenden glich. »Wir haben ihm das nie verziehen. Aber er verzieh uns. Indem er uns einen Traum hinterließ – ob er ihn erfand oder nicht, spielt keine Rolle. Er und kein anderer schrieb ihn auf. Für uns.«
    McEllis nickte so sanft, wie der Regen jetzt fiel; seine Schwermut hatte sich mit Kurt Lukas’ Rückkehr gelegt. Auch die anderen nickten. Butterworth sprach überzeugend. Während er sich mit jedem Satz weiter von seinem Deutungsvorhaben entfernte, kam er der Wahrheit immer näher. Niemand unterbrach ihn. »Das hier«, sagte er schließlich und hielt das beschriebene Blatt in die Höhe, »ist eine ausgestreckte Hand.« Er reichte das Blatt weiter, es ging reihum. Sie schwiegen lange. Bis der Superior einen Vorschlag machte. Dieses Dokument sollte verbrannt werden, damit seine Wirkung erhalten bleibe. Es war ein Vorschlag, der sich nicht besprechen ließ. Nach kurzem Nachdenken stimmten ihm alle zu. McEllis entzündete ein Streichholz und steckte das Blatt in Brand, und Butterworth verriet mit jedem Gesichtszug, daß er keine Abschrift besaß. Sie sammelten die Asche, verteilten sie über die Blumenkästen auf der Brüstung und standen dann noch eine Weile unbewegt da, während der Regen aufhörte. Die Abendsonne schien durch Wolkenbreschen; Schwalben flogen. Der Superior bat um das Kreuz. Er befühlte es, als habe er noch nie ein Kreuz gehalten, und sprach ein Gebet für den Toten. Anschließend wechselten sie in den Gemeinschaftsraum und erwarteten ihren Gast.
    »Er erschien mit einem Paket«, notierte McEllis tief in der Nacht, »und übergab es Pacquin mit den Worten, Ein kleines Geschenk. Kamen dann schnell überein, daß Dalla Rosa es auspackte. Ecco, rief er, ein neuer Toaströster! Wir betrachteten das Gerät, ein japanisches Modell, und unser früherer Gast wies darauf hin, daß es über mehrere Stufen verfüge. Von einer leichten Erwärmung des Toasts bis zu einer Knusprigbräunung sei alles möglich. Butterworth ließ sich den Mechanismus erklären. Bei fünf Stufen, sagte er, werde man sich in Zukunft morgens abstimmen müssen, und das Frühstück ziehe sich hin. Besonders wenn jeder auf seine eigene Stufe

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