Infernal: Thriller (German Edition)
Einbruch der Dämmerung.«
»Was ist passiert?«
»Sie hat ihn mit der gleichen Entschiedenheit abblitzen lassen, mit der sie es immer tut. Thalia ist eine wunderschöne Frau, und sie scheint daran gewöhnt, sich dieser Art unerwünschter Aufmerksamkeit zu erwehren.«
»Sie fuhr also allein davon?«
»Ja. Ich glaube, Leon hat sie nicht in Ruhe gelassen, weil er wusste, dass sie nackt für eine Studentenklasse posiert hat. Er hat es wohl als sexuelles Angebot aufgefasst.«
Wahrscheinlich, ja, denke ich.
»Können Sie sich sonst noch an etwas zwischen den beiden erinnern?«, fragt John. »Irgendetwas Ungewöhnliches oder Peinliches?«
Wheaton scheint unsicher, ob er fortfahren soll. »Hin und wieder einmal, wenn ich das Center verließ, sah ich Leon, wie er Thalia über den Innenhof gefolgt ist.«
»Aus der Nähe? Oder von weiter weg?«
»Weit genug entfernt, um nicht entdeckt zu werden. Es sah aus, als hätte er vor, ihr den ganzen Weg zu folgen. Aber ich kann mich selbstverständlich irren. Möglicherweise waren beide auf dem Weg zur Universitätsverwaltung oder so etwas.«
»Aber das war nicht der Eindruck, den Sie hatten?«, fragt Lenz.
»Nein.«
»Es war richtig von Ihnen, uns darüber zu informieren«, sagt John.
»Das hoffe ich. Ich bin ein starker Verfechter des Rechts auf Privatsphäre, wie ich Ihnen bereits zu verstehen gegeben habe.« Wheaton beugt sich langsam vor. Dann, als würde ihm die Bewegung große Schmerzen in den Kniegelenken bereiten, steht er auf. »Und nun, Gentlemen – falls Sie nicht noch einen weiteren Durchsuchungsbefehl im Ärmel haben –, möchte ich Sie bitten zu gehen. Ich muss zu meiner Arbeit.«
Der Künstler verschränkt die Arme vor der Brust, und die weißen Handschuhe verschwinden hinter seinen Oberarmen.
»Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten«, sagt Lenz, »aber es gibt da noch ein paar ungeklärte Fragen in Ihrer Biografie.«
Wheaton hebt konsterniert die Augenbrauen.
»Aus veröffentlichten Interviews wissen wir nur sehr wenig hinsichtlich Ihrer Lebensumstände über einen gewissen Zeitpunkt hinaus, doch wir wissen beispielsweise, dass Sie in einem ländlichen Teil von Vermont aufgewachsen sind, im Windham County. Ihr Vater war ein Farmer?«
Wheaton seufzt verärgert. »Und Fallensteller.«
»Was hat er gefangen?«
»Biber und Füchse. Er hat sich auch mit Marderzucht versucht, aber ohne Erfolg.«
»Thalia Laveaus Vater war auch Fallensteller, wenn ich mich recht erinnere?«
»Ja. Wir haben Geschichten darüber ausgetauscht.«
»Könnten Sie uns einige davon erzählen?«
»Nicht heute.«
»Wir wissen außerdem, dass Ihre Mutter das Haus verließ, als Sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt waren.«
Wheaton sieht aus, als könnte er Lenz leibhaftig aus seiner Wohnung werfen.
»Ich verstehe, dass es eine schmerzvolle Erinnerung ist«, sagt der Psychiater. »Trotzdem müssen wir es wissen. Warum hat Ihre Mutter das Haus verlassen, ohne die Kinder mitzunehmen?«
Wheaton schluckt und sieht zu Boden. »Ich weiß es nicht. Mein Vater dachte, dass sie einen Mann kennen gelernt hat und mit ihm durchgebrannt ist. Ich habe das nie geglaubt. Es ist sicher möglich, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hat – mein Vater war offen gestanden ein unangenehmer Mensch und viel zu rau gegen Mutter –, aber sie hätte mich – uns – nie zurückgelassen.«
Meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt, während Wheaton unter dem Druck von Lenz meine eigenen tiefsten Befürchtungen und Hoffnungen ausdrückt.
»Ich glaube, sie ist in eine gefährliche Situation geschlittert«, sagt er, »und irgendetwas Schlimmes ist ihr zugestoßen. Entweder hat mein Vater uns nichts davon gesagt, oder niemand wusste, wo sie wirklich war. Falls sie ihren Namen abgelegt hat, um unerkannt mit jemand anderem zusammen sein zu können, in New York vielleicht, dann könnte ich mir das vorstellen.«
»Inwiefern war Ihr Vater ein unangenehmer Mensch? Hat er Ihre Mutter misshandelt?«
»Nach heutigen Maßstäben, unzweifelhaft. Doch das waren die fünfziger Jahre, und wir lebten in der Mitte des Nirgendwo.«
»Hat er Sie und Ihre Geschwister misshandelt?«
Wheaton zuckt die Schultern. »Noch einmal – nach heutigen Standards – gewiss. Er hat uns mit einem Rasierriemen geprügelt, mit Birkenknüppeln, allem, was ihm in die Hände kam.«
»Was war mit sexuellem Missbrauch?«
Aus dem tiefen Seufzen des Künstlers klingt äußerste Verachtung für den Psychiater.
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