Infernal: Thriller (German Edition)
wiedersehen werde und dass ihr Verschwinden niemals aufgeklärt wird, doch mit einem Mal ist diese Gewissheit nichts mehr wert. Ich bin froh, dass es so ist ... aber gleichzeitig ist es auch beängstigend. Ich fühle mich wieder verletzlich.«
»Ich verstehe Sie sehr gut, glauben Sie mir. Ich habe schon früher ähnliche Fälle erlebt. Vermisstenfälle, die jahrelang auf Eis liegen, bis plötzlich das verschwundene Kind oder der verschwundene Ehegatte wieder auftaucht. Es bringt die Menschen durcheinander. Sie verlieren die Orientierung. Der Homo sapiens hat überlebt, weil er sich so schnell an Veränderungen anpasst, und seien sie noch so grauenhaft. Wenn man gezwungen wird, eine Anpassung wieder zurückzunehmen, die man machen musste, um zu überleben, kann das einen emotionalen Tumult verursachen. Und eine Menge Unwillen.«
»Ich empfinde keinen Unwillen.«
Er beobachtet mich freundlich. »Das habe ich auch nicht gesagt. Aber ich habe es bei anderen Fällen gesehen.«
Ich nehme einen großen Schluck Tee und spüre, wie das Koffein in meine Adern strömt und mein Herz belebt. »Ich würde gern wissen, wie weit Sie in diesem Fall gekommen sind. Und wie Ihrer Meinung nach die Chancen stehen, dass er gelöst wird.«
Kaiser hat bereits seine erste Frühlingsrolle aufgegessen und wendet sich jetzt dem Rindfleisch zu. »Kann ich nicht sagen. Ich wurde schon zu oft enttäuscht.«
»Glauben Sie, dass der Tod von Christopher Wingate mit dem Fall meiner Schwester zusammenhängt?«
»Ja.«
»Und Sie glauben, dass mehr als eine Person hinter alldem steckt.«
Kaiser legt den Kopf zur Seite. »Ja und nein.«
»Was soll das heißen? Sie teilen die Theorie von Dr. Lenz nicht? Der Kidnapper in New Orleans und der Maler in New York?«
»Nein.«
»Und warum nicht?«
»Instinkt, größtenteils. Es ist eine elegante Theorie, und sie erklärt eine Menge. Den Grund beispielsweise, warum wir keine Gemeinsamkeiten unter den Opfern finden können. Lenz meint, dass der Entführer in New Orleans für das Kidnapping bezahlt wird und seine Opfer willkürlich aussucht. Doch so funktionieren diese Typen nicht. Raubtiere wählen sich leichte Beute, doch es gibt immer ein zugrunde liegendes Muster für die Auswahl eines Opfers. Selbst wenn es nur ein geografisches ist.«
»Sie glauben, es gibt irgendeine Verbindung zwischen den Opfern?«
»Es gibt immer irgendeine Verbindung, ja. Serienmord ist Sexualmord, das ist ein Axiom. Es mag vielleicht anders aussehen, doch es liegt stets eine ernste sexuelle Fehlanpassung zugrunde. Und das Kriterium für die Auswahl des Opfers ergibt sich daraus. Die Opfer kommen aus New Orleans. Mein Gefühl sagt mir, dass auch die Auswahl hier getroffen wird. Sie ist nicht willkürlich. Wir haben das Muster nur noch nicht erkannt.«
»Also haben Sie eine Vorstellung von dem Täter entwickelt? Von dem, was ihn antreibt?«
»Ich habe mich bemüht, aber es gibt nicht viel, auf dem man aufbauen könnte. Die normalen Regeln greifen nicht. Ist es eine organisierte oder eine desorganisierte Persönlichkeit? Der Vergleich mit Ted Bundy – der als organisierter Täter klassifiziert wurde – hinkt ungefähr so wie der Vergleich von Stephen Hawking mit Mister Rogers. Keine Leichen. Keine Zeugen. Keine Indizien. Die Opfer könnten genauso gut von Aliens entführt worden sein. Und das erschreckt mich mehr als alles andere.«
»Warum?«
»Weil es schwer ist, einen Leichnam gut zu verstecken. Besonders in einer urbanen Umgebung. Leichen stinken. Hunde und Katzen graben sie aus. Stadtstreicher und Obdachlose finden sie. Passanten melden verdächtige Vorkommnisse viel häufiger, als Sie vielleicht glauben. Und neugierige Nachbarn sehen einfach alles.«
»Es gibt eine Menge Sümpfe rings um New Orleans«, entgegne ich. »Ein Bild verfolgt mich bis in meine Alpträume. Jane irgendwo unter einem Mangrovenstumpf eingeklemmt.«
Kaiser schüttelt den Kopf. »Wir haben die Sümpfe monatelang durchkämmt, ohne den geringsten Erfolg. Auch den Lake Pontchartrain. Außerdem sind die Sümpfe nicht verlassen. Es gibt Jäger, Fischer, Ölleute. Wildhüter. Familien, die in Hütten auf dem Wasser leben. Denken Sie darüber nach. Wenn der Täter ein Opfer vom Damm ins Wasser wirft, dann treibt es irgendjemandem vor die Nase. Und elf Leichen hintereinander? Vergessen Sie’s. Selbst wenn er tief in den Sumpf vordringt und die Leiche in einem Boot mit sich führt, bleibt ihm kaum eine andere Wahl, als es in der Nacht zu tun. Können
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