Infernal: Thriller (German Edition)
weitaus mehr als das«, sagt Lenz. »Sein Stil ist heutzutage so ausgeprägt, dass er in der weltweiten Kunstgemeinde eine eigene Schule hervorgerufen hat. Sie nennen seinen Stil den ›Dunklen Impressionismus‹. Nicht, weil die Bilder unbedingt dunkel sind – obwohl dies für den größten Teil seiner jüngeren Arbeiten gilt –, sondern wegen ihres Inhalts. Er wendet impressionistische Techniken an, doch die ursprünglichen Impressionisten malten eher das, was man ›fröhliche‹ Motive nennen könnte. Pastorale, stille Motive. Denken Sie an Manet, Renoir, Monet, Pissarro. Wheatons Arbeiten sind ganz anders.«
»De Becque sagte, dass die ›Schlafenden Frauen‹ ebenfalls in impressionistischer Technik gemalt wurden«, sage ich zu Lenz. »Jedenfalls die Art und Weise, wie die Farbe aufgetragen wurde.«
»Das stimmt«, sagt Lenz. »Doch er hat den reinen Stil sehr schnell aufgegeben. Viele Künstler ahmen zu Anfang die Impressionisten nach, genau wie junge Komponisten die berühmten Vorbilder der Vergangenheit. Doch Impressionismus im reinen Sinne ist passé. Wheaton ist deshalb so erfolgreich, weil er etwas Neues in den Stil gebracht hat. Was ihn als Urheber der ›Schlafenden Frauen‹ angeht, so haben zwei Sachverständige bereits festgestellt, dass die ›Schlafenden Frauen‹ keinerlei Gemeinsamkeiten mit den Gemälden von Roger Wheaton aufweisen.«
»Könnte ein Mann in zwei grundverschiedenen Stilen malen, ohne dass ein Experte imstande wäre, es festzustellen?«, fragt Baxter.
»Wenn er es tut, um etwas zu beweisen – wahrscheinlich.«
»Was, wenn er es tut, um nicht erkannt zu werden?«
»Möglich. Doch im Verlauf einer Reihe von Arbeiten kristallisieren sich stets wieder die gleichen Eigenarten heraus. Wir haben einige Porträts organisiert, die Wheaton vor Jahren gemalt hat, um die Ausführung von Haut, Augen, Haaren et cetera mit den ›Schlafenden Frauen‹ zu vergleichen. Es ist alles ein Aspekt der Technik, doch die letztendliche Antwort lautet nein. Er hätte sich nicht so gut verstecken können. Selbstverständlich analysieren wir noch die Farben, die Leinwände und sämtliche anderen Materialien, um ganz sicher zu sein.«
»Haben Sie die Haare von diesen Zobelpinseln auf den Bildern Wheatons finden können?«
»Ja. Wir fanden sie außerdem auf den Gemälden von Smith, Gaines und Laveau.«
»Und wie weit reichen diese Bilder zurück?«
»Zwei Jahre. Als die vier zur Tulane kamen.«
»Wheaton hat also erst vor zwei Jahren angefangen, diese speziellen Pinsel zu benutzen?«
»So scheint es. Wir werden ihn nach dem Grund fragen. Machen wir weiter. Ich könnte eine ganze Stunde allein über Wheaton reden, doch wir haben einen viel dringenderen Tatverdächtigen in dieser Gruppe.« Baxter beugt sich über die Freisprechanlage. »Bringen Sie Gaines auf den Schirm, Tom.«
Das Bild Wheatons weicht einem Verbrecherfoto des Sträflings. Ich würde eine viel befahrene Interstate überqueren, um diesem Typen nicht begegnen zu müssen. Wahnsinnige Augen, teigige Haut, wirres schwarzes Haar, ein Stoppelbart und eine gebrochene Nase. Der einzige Pinsel, den ich mir in seinen Händen vorstellen kann, ist eine dicke Malerbürste.
»Leon Isaac Gaines«, sagt Baxter. »Wenn ich in diesem Augenblick wetten müsste, würde ich sagen, dass er unser Mann in New Orleans ist. Seine Eltern waren Alkoholiker. Der Vater hat wegen Unzucht mit einer Minderjährigen in Sing Sing eingesessen und den Weg für den Junior bereitet, denke ich.«
»Wie alt war das Mädchen?«, fragt Kaiser.
»Vierzehn. Leon wurde als Jugendlicher mehrfach verhaftet. Einbruch, Überfall, Voyeurismus, alles Mögliche. Er hat wegen Brandstiftung im Jugendgefängnis gesessen und war bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr immer wieder in verschiedenen Besserungsanstalten.«
Kaiser schnaubt, und ich weiß warum. Brandstiftung im Kindesalter gehört zu jenen drei Indikatoren, die auf spätere Serienmörder hindeuten. Bettnässen, Brandstiftung und Tierquälerei: Ich erinnere mich ganz deutlich an das, was ich im letzten Jahr gelesen habe.
»Er hat auch Tiere gequält«, fährt Baxter fort. »Mit zwölf hat er die Katze eines Nachbarn bis zum Hals in einem Sandhügel vergraben, um anschließend mit dem Rasenmäher darüber zu fahren.«
»Enuresis?«, fragt Kaiser.
»Keine Aufzeichnungen über Bettnässen, nein. Beide Eltern sind verstorben, doch sie gehörten nicht zu der Sorte,
die deswegen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hätte.
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