Inferno
sie hinab wie ein Räuber, der sich von hinten anschleicht. Sie fühlte sich wie in einer schwarzen Schlucht eingeklemmt, während Albträume sich über ihr auftürmten.
Zunächst das Übliche:
Lissas Gesicht, zu einer Maske wahnwitzigen Hasses verzerrt.
Und die Stimme, wie ein Todesröcheln: »Meine eigene Schwester … wie konntest du mir das nur antun?«
Dann der Schuss und das heiße Blut, das Cassie in die Augen spritzt.
Nein, bitte …
Noch mehr Fragmente eines Albtraums quälten sie. Ja, sie lag unbeweglich in einer Schlucht – oder in einem offenen Grab.
Ihr Mund war wie zugeklebt.
Sie nahm übel riechenden Rauch wahr, konnte dumpf das Knistern eines lodernden Feuers hören. Wieder sah sie die Stadt unter dem roten Himmel.
Die Stadt schien endlos.
Weit entfernte Schreie wogten hin und her, wie Sirenen, die noch kilometerweit weg sind. Doch mit jedem fieberhaften Schlag ihres Herzens krochen die Visionen näher.
Die Stadt bot ein höllisches Panorama, ein Firmament der Verkehrungen, dessen höchstes Gebäude oben an der Spitze blinkte wie ein Leuchtfeuer phosphoreszierenden Blutes. Cassies Vision verlor sich in stinkenden, heißen Winden, die durch abgründige Alleen und abstoßende Boulevards bliesen, als seien sie selbst ein Schrei. In einer Allee drängte sich eine Truppe menschenähnlicher Kreaturen mit schmalen Schlitzen als Augen, und mit unmenschlichen dreifingrigen Händen wählten sie Opfer aus einer Menge ausgemergelter Gestalten aus, für welchen Zweck auch immer in dieser grauenhaften Nacht. Die Finger in die Augenhöhlen eingehakt, schleppten sie die Bedauernswerten hinter sich her. Bleiche Münder öffneten sich, um zu schreien, und spien Eingeweide und Ströme von Blut aus. Schädel wurden aufgebrochen, rohe Gehirne von den fetten, klauenartigen Fingern durchwühlt. Ein Mann wurde mit weiß glühenden Schürhaken versengt, ein anderer durch einen raschen Hieb mit einer Klaue ausgeweidet. Dann wurden dem Opfer unverzüglich die eigenen Eingeweide in den Mund gestopft, und er wurde gezwungen, sie zu essen. Den Frauen erging es noch schlechter, ihre abgemagerten Körper waren vollkommen entblößt und durch sexuelle Akte geschändet, die jede menschliche Vorstellungskraft sprengten.
Ein leises Kichern lag über den grenzenlosen Schindereien dieses Ortes.
So grauenhaft diese Bilder auch waren, Cassie spürte eine Ahnung, dass sie diese Dinge sehen sollte .
In einem Blinzeln verschwand der Albtraum, dann konzentrierte er sich stärker auf die Einzelheiten dieser Straße des Bösen. Schreie explodierten; Cassie dachte an Hungerrevolten in einer Art kollabierender Drittweltstadt. Die entfernt menschenähnlichen Wächter stapften in ihrer namenlosen Mission weiter, schoben sich brutal durch die Menge. Eine Frau wurde herausgegriffen, an den Haaren nach vorne gezogen und auf die Straße geworfen. Die Kleider wurden ihr vom Leib gerissen, und während sie von einer abscheulichen Kreatur nach der anderen vergewaltigt wurde, umklammerten zwei weitere dreifingrige Hände ihren Kopf wie ein Schraubstock und drehten ihn herum und herum und herum, bis er sich ablöste. Die Enthauptung schien ihre Schlange stehenden Vergewaltiger nicht im Mindesten von ihrem Vorhaben abzubringen. Hämisch triumphierend steckte am Ende einer der Wächter den abgetrennten Kopf oben auf ein Straßenschild, damit alle ihn sehen konnten.
Auf dem Straßenschild stand: STÄDTISCHE MUTILATIONSZONE.
Der abgetrennte Kopf gehörte Cassie.
Stille.
Dunkelheit, wie der Tod.
Dann – Stimmen, zischendes Flüstern:
»Seht ihr, wie blau ihre Aura ist? Ich hab’s euch doch gesagt.«
»Cool.«
»Man kann sie sogar … anfassen .«
Hände befühlten ihren Körper. Sie war blind. Eine Hand schien zu zittern, als sie ihr Gesicht berührte. Eine andere legte sich flach zwischen ihre Brüste.
»Ich kann es spüren! Ich kann ihr Herz spüren!«
Da waren Finger, die sich an ihrem Medaillon zu schaffen machten. »Ich kann sogar das hier spüren. Ich kann es festhalten …«
Cassies Augenlider öffneten sich. Sie konnte sich nicht bewegen. Wie ein Leichnam, der aus irgendeinem Grund noch sehen kann, lag sie da.
Der Albtraum über die Stadt und die systematische Schlächterei war vorbei, ersetzt von diesem hier. Das ist immer noch ein Traum , dachte sie. Es muss ein Traum sein .
»Du hattest Recht. Sie ist eine Tochter des Äthers.«
»Mein Gott …«
Schweigen.
»Lasst uns abhauen«, sagte eine der Gestalten. »Ich glaube,
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