Inferno
sie wacht gleich …«
… auf, ihr Rücken bog sich durch, als die Lähmung des Albtraums verschwand und sie sich ruckartig im Bett aufrichtete. Ihr Mund war aufgerissen, und sie schrie, doch der Schrei verließ ihren Mund lediglich als ein lang gezogenes, kaum hörbares Zischen tief aus ihrer ausgetrockneten Kehle. Eine erste Ahnung von Morgenrot drängte orangefarben um die mit Troddeln verzierten schweren Vorhänge. Der Schreck machte sie stumm, so wie man sich vielleicht fühlt, wenn man aufwacht und spürt, dass irgendwo im Raum ein Eindringling lauert.
Ihr Kopf fuhr nach links.
Bildete sie sich das ein, oder huschte dort gerade noch eine Gestalt aus der Tür?
Wieder warf sie sich im Bett herum und knipste hektisch die Lampe auf dem Nachttisch an, als könne das Licht ihre Panik vertreiben. Sie wartete darauf, dass ihr Herzschlag sich normalisierte, aber das tat er nicht. Das Nachthemd klebte vor Schweiß an ihr wie ein nasses Taschentuch, und als sie das Medaillon untersuchte, schien es ihr beinahe, als sei der polierte Silberdeckel von Fingerabdrücken verschmiert.
Ich bin ja so was von irre im Kopf …
Sie überlegte, ob sie nach ihrem Vater rufen sollte, doch was würde das schon nutzen? Sie hatte nur eine einzige Option, das war klar.
Entschlossen schluckte sie ihre restliche Furcht herunter und verließ ihr Zimmer, die nackten Füße rannten fast den Flur hinunter, zur Treppe, einen Absatz hinauf und dann noch einen.
Jetzt oder nie , dachte sie.
Ohne zu zögern trat sie in das Oculus-Zimmer.
Drei Gestalten saßen aufgereiht auf einer der Matratzen: ein Mädchen, ein Junge und noch ein Mädchen, das sie sofort erkannte.
»Hi, Cassie«, begrüßte Via sie. »Wir wussten, du würdest irgendwann hochkommen, um uns zu besuchen.«
KAPITEL VIER
I
Via lächelte fröhlich von der Matratze hoch. Die Mienen der anderen beiden wirkten fast ehrfürchtig.
Cassie blieb einfach nur wie angewurzelt stehen.
»Das sind Xeke und Hush. Und das ist Cassie. Sie wohnt hier mit ihrem Vater.«
Cassie drehte nicht einmal den Kopf, um die anderen anzusehen; nur ihre Augen bewegten sich. Vias Klamotten hatten nicht gewechselt, sie trug noch dieselbe Lederhose, Stiefel und Jacke. Xeke, der Junge, war ähnlich gekleidet: britischer Punk der späten 70er, mit den dazugehörigen Buttons und Aufnähern (BRING BACK SID! und Do You Get The KILLING JOKE? und so weiter). Hätte sie nicht so unter Schock gestanden, wäre Cassie beeindruckt von seinem guten Aussehen gewesen – schlank, leicht getönte Haut, dunkle, eindringliche Augen in einem Gesicht, das zu einem männlichen italienischen Model hätte gehören können. An seinen Ohren baumelten kleine Fledermäuse aus Zinn, das lange pechschwarze Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. In Xekes Augen stand geschrieben, dass er Cassie für eine Art Ikone hielt, und das Gleiche galt für den dritten Hausbesetzer, das andere Mädchen. Wie war noch mal ihr Name? , dachte Cassie. Hush?
»Hush kann nicht sprechen«, erklärte Via. »Aber sie ist total in Ordnung.«
Cassie hörte wie aus weiter Ferne zu; sie fühlte sich von sich selbst losgelöst. Es knackte in ihrer Kehle, als sie versuchte zu sprechen. »Gestern … im Wald. Du hast gesagt, du seiest tot.«
»Sind wir auch«, sagte Xeke sachlich.
»Wir können uns vorstellen, was für ein Schock das für dich sein muss«, ergänzte Via. »Du wirst ein bisschen brauchen, um dich daran zu gewöhnen.«
»Wir sind alle drei tot«, sagte Xeke, »und nach unserem Tod kamen wir in die Hölle.«
Da wohnen Leute in meinem Haus , dachte Cassie benommen. Tote Leute .
Sie wollte im Moment nicht darüber nachdenken. Entweder stimmte es wirklich, oder sie war geisteskrank. Punkt. Also lief sie einfach hinter Via, Xeke und Hush die Treppe hinunter.
»Wir beweisen es dir einfach jetzt sofort«, meinte Via. »Dann haben wir das hinter uns.«
»Und dann können wir uns in Ruhe unterhalten«, fügte Xeke hinzu.
Hush blickte über die Schulter und lächelte.
Klar. Ich laufe hinter toten Leuten die Treppe runter.
»Blackwell Hall ist der stärkste Totenpass in diesem Teil des Äußeren Sektors«, erklärte Via gerade.
»Totenpass«, wiederholte Cassie.
»Das liegt an Fenton Blackwell …«
»Der Typ, der in den Zwanzigern diesen Teil des Hauses erbaut hat«, hakte Cassie ein. »Der Satanist, der … die Babys geopfert hat.«
»Genau«, bestätigte Via.
Xeke lächelte Cassie unbeschwert zu, als sie am nächsten Treppenabsatz
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