Inferno
denen die Risse in ihrem T-Shirt zusammengehalten wurden. »Das ist eine lange Geschichte, aber das macht ja nichts. Zuerst mal musst du verstehen, dass es Regeln gibt. Wir waren in unserem Leben eigentlich keine so schlechten Menschen, aber wir waren nervlich total fertig. Wir sind nicht klargekommen. Also haben wir uns umgebracht. Das ist eine der Regeln.«
»Ohne Wenn und Aber«, ergänzte Xeke.
»Wenn man Selbstmord begeht, kommt man in die Hölle. Punkt. Da gibt es keine Ausnahmen. Selbst der Papst käme in die Hölle, wenn er Selbstmord begehen würde. Das ist eine der Regeln.«
Cassie berührte ihr Medaillon, etwas in ihr zog sich zusammen. Ihre Schwester Lissa hatte Selbstmord begangen. Also ist sie auch …
Cassie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken.
»Dieses Haus ist ein Totenpass, oder besser gesagt der neuere Teil des Hauses, eben der Teil, den Blackwell erbaut hat. Seine Gräueltaten haben Den Spalt geschaffen – das ist eine Art kleines Loch zwischen der Welt der Lebenden und dem Höllenplateau. Wenn du bist wie wir – also wenn du eines dieser Löcher findest -, dann kannst du Zuflucht in der Welt der Lebenden suchen.«
»Aber niemand in der Welt der Lebenden kann dich sehen«, schloss Cassie.
»Niemand. Punkt. Das ist noch eine der Regeln.«
Cassie fing an, »Aber warum dann …«
»Kannst du uns sehen?« Xeke hielt den Zeigefinger hoch.
»Es gibt ein Schlupfloch.«
Dichtes Schweigen erfüllte den engen Keller. Via, Xeke und Hush tauschten ernste Blicke. Hush hielt Cassies Hand und drückte sie, wie um sie zu trösten.
Cassie sah sie alle nacheinander ratlos an. »Was ist denn?«
»Du bist ein Mythos«, sagte Via.
»In der Hölle«, fuhr Xeke fort, »bist du das Äquivalent zu Atlantis. Etwas, das es angeblich geben soll, aber das niemals bewiesen werden konnte.«
Via setzte sich neben Xeke und schlang den Arm um ihn. »Also, der Mythos lautet folgendermaßen. Du bist noch Jungfrau, richtig?«
Cassie zuckte unbehaglich zusammen, nickte aber.
»Und du bist nicht getauft.«
»Nein. Ich wurde in keinem speziellen Glauben erzogen.«
»Du hast mindestens einmal ernsthaft versucht, dich umzubringen, auch richtig?«
Cassie schluckte. »Ja.«
»Und du hast eine Zwillingsschwester, die sich wirklich umgebracht hat.« Via fragte gar nicht mehr: Sie teilte Cassie einfach nur mit, was sie ohnehin schon wusste. »Eine Zwillingsschwester, die ebenfalls noch Jungfrau war.«
Cassie kamen langsam die Tränen. »Ja. Ihr Name war Lissa.«
Noch ernstere Blicke.
»In der Hölle spricht man davon, wie man hier über Engelserscheinungen spricht, über Leute, die angeblich Jesus in einem Spiegel gesehen haben oder Maria auf einer Pizza.« Via sprach weiter. »Solche Sachen eben. Man redet darüber, aber niemand glaubt wirklich daran.«
»Es steht alles in den Infernalen Archiven geschrieben«, erklärte Xeke. »Das Grimoire von Elymas, die Schriftrollen des Lascaris, die Apokryphen von Bael – der Mythos taucht überall auf. Wir haben alles darüber gelesen und es auch nie wirklich geglaubt. Aber es gibt dich.«
»Der Mythos ist wahr«, sagte Via. »Du bist eine Tochter des Äthers.«
Die fremde Welt schien durch den Keller zu huschen wie ein Spatz in der Falle. »Tochter des Äthers«, wiederholte Cassie.
»Genau wie es in den Grimoiren steht: Du bist ein physisches Band im Reich des Äthers, etwas, das durch eine bestimmte astronomische Konstellation geschaffen wurde. Zwillingsschwestern, beide Jungfrauen und beide lebensmüde. Eine bringt sich um, die andere überlebt. Beide an einem okkulten Feiertag geboren.«
Nun runzelte Cassie die Stirn. »Lissa und ich sind am 26. Oktober geboren; das ist kein okkulter Feiertag.«
Via und Xeke mussten laut lachen. »Das ist der Tag, an dem Baron Gilles de Rais exekutiert wurde«, erklärte Via.
Und Xeke fügte hinzu: »Für die satanischen Sekten ist es der mächtigste Tag der Anbetung. Dagegen wirken Halloween und Walpurgisnacht wie ein Kindergeburtstag.«
Via sprach jetzt lauter, ihre Stimme hallte. »Du bist eine Tochter des Äthers, Cassie. Du bist etwas ganz, ganz Besonderes.«
Xeke beugte sich vor, er schien zögerlich. »Und weil du ein Ätherkind bist, könntest du uns einen echt großen Gefallen …«
»Verflucht, Xeke!« Via wandte sich um und brüllte ihn an. »Sei nicht so berechnend!«
Xeke zuckte mit den Schultern. »Man kann ja mal fragen.«
Via rammte ihm den Ellbogen in die Seite, dann blickte sie zu Cassie. »Was der
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