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Inferno

Inferno

Titel: Inferno Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Lee
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Mmmmhm, ist das wundervoll . Das hatte er sich doch wohl verdient. Er war ein Mann im Ruhestand, der sein ganzes Leben hart gearbeitet hatte und sich nun ein Glas Whiskey und eine Zigarette gönnte.
    Um Mitternacht.
    Im Dunklen.
    In Unterwäsche.
    Na ja...
    Ach, zur Hölle , dachte er wieder.
    Er leerte sein Glas und goss sich noch eines ein. Diesmal nur anderthalb Fingerbreit. Was denn, er hatte schon etliche Male in den Gesundheitssendungen gehört, dass ein paar Schlückchen Alkohol am Tag gut taten, den Cholesterinspiegel senkten und so weiter. Was konnte es schon schaden, besonders einem Mann mit Herzproblemen?
    Er nahm noch einen nervösen Schluck.
    In diesem Moment hörte er die Schritte.
    Mist! Cassie kommt die Treppe runter!
    Das Letzte, was er wollte, war, von ihr mitten in der Nacht beim Trinken und Rauchen erwischt zu werden. In Unterwäsche. Er versteckte das Glas im Schrank und löschte die Zigarette im Spülbecken. Dann ging er so zwanglos wie möglich zurück in die Eingangshalle.
    Zwanglos, genau. Um Mitternacht.
    Merkwürdig.
    Das Licht im zweiten Stock war immer noch aus. Und die breite Treppe war leer.
    Seniler Esel, schalt er sich schon zum zweiten Mal heute. Ich muss ja wohl einen erstklassigen Sprung in der Schüssel haben. Er war sich sicher gewesen, Cassie die Treppe herunterkommen zu hören.
    Also tappte er zurück in die Küche und holte das Glas wieder aus dem Schrank.
    Was zum Teufel ist hier los? Ist das eine Art schlechter Witz?
    Keine zwei Sekunden später hörte er es wieder.
    Schritte. Langsam und bedächtig.
    Nur, dass sie diesmal die Treppe wieder hinauf gingen. Er hetzte wieder in den Flur. Knipste den Kristallleuchter an.
    Auf der Treppe war niemand.
    Ganz ruhig, ich bin noch etwas mitgenommen von dem Traum, oder was auch immer das war . Es war die einzig mögliche Erklärung. Zumindest glaubte er das. Ich bin wie ein kleines Kind, ich habe Angst vor der Dunkelheit und will, dass Mami die Monster verjagt!
    Licht wieder aus und zurück in die Küche. Er trank seinen Whiskey aus, doch dann …
    Heilige Jungfrau!
    … ließ er das Glas fallen, als er eine Hand sanft auf seiner Schulter fühlte. Das Glas zersprang, und die Splitter verteilten sich über dem Küchenfußboden.
    Er wirbelte herum, und trotz seiner Angst wusste er, dass niemand da sein würde.
    Er irrte sich.
    Da, im schwachen Mondlicht, stand eine schlanke junge Frau vor ihm.
    Grinsend.
    Sie war nackt, und ihre Haut war so blass wie Milch. Sie stand einfach nur da.
    Bill konnte keinen Muskel seines Körpers bewegen.
    Die schlanken Arme der jungen Frau reckten sich ihm entgegen. Ihre weißen Hände berührten seine Brust, doch die Berührung schien sich aufzulösen. Die Hände schienen einen Moment lang greifbar, dann verschwanden sie in seiner Brust.
    Ein Geist berührte ihn.
    Doch nun wusste er, wer der Geist war.
    Das lange schwarze Haar mit der weißen Strähne auf der rechten Seite.
    Es war Lissa, seine tote Tochter.
    Schlimmer noch war die sichtbare Verstümmelung.
    Ihre Brüste waren fort, abgeschnitten. Zurückgeblieben waren lediglich zwei eckige schwarze Nähte.
    »Ich bin jetzt in der Hölle, Dad«, sagte sie, doch die Stimme floss aus ihrem Mund wie verdorbene schwarze Flüssigkeit.
    Dann verschwand die Erscheinung.
    Ich bin total fertig , befand Bill und wischte sich die Stirn mit dem Ärmel seines T-Shirts ab.
    Da war natürlich kein Geist gewesen. So etwas gab es nicht. Aber es gab Halluzinationen, optische Illusionen, furchtbare Bilder, die sein Unterbewusstsein hervorbrachte. Suggestive Kräfte unbewusster und uneingestandener Traumata und Belastungen. Es gab vom Alkohol ausgelöste visuelle Streiche.
    Bill kam wieder zu Atem. Er war entschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Er war ein erwachsener Mann, kein Spinner. Er goss den teuren, achtzehn Jahre alten Scotch in das teure, maßangefertigte Porzellanspülbecken. Gurgelnd verschwand die goldene Flüssigkeit, nur das warme Aroma hing noch in der Luft.
    Schluss damit , dachte er entschlossen.
    Lissa war tot. Ihr Ende war die schlimmste Tragödie seines Lebens gewesen, und offenbar hatte es seelische Narben hinterlassen. Diese Narben würden vermutlich niemals ganz verheilen, das war ihm nun klar.
    Doch sie war tot und begraben und fort.
    Es gab keine Geister. Es gab keine Seelen, die in der Dunkelheit spukten.
    Benommen ging er in sein Schlafzimmer zurück, schaltete die Nachttischlampe aus und zog die Bettdecke hoch.
    Geh einfach

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