Infinity (German Edition)
davon angefangen hätte.
Das Quietschen von Reifen riss sie aus ihren bedrückenden Gedanken. Scheinwerferlicht zuckte über den nassen Straßenbelag. Sie sah eine vertraute Silhouette den Weg von der S-Bahn-Station heraufkommen. Sie erkannte die breiten Schultern, den wirren Lockenkopf, den die Person zwischen die Schultern gezogen hatte.
Alen kam zurück!
Sie klopfte gegen die Scheibe und winkte. Mitten in der Bewegung erstarrte sie. Das Auto hatte angehalten. Jemand riss die Beifahrertür auf. Klara kniff die Augen zusammen. Der Nebel narrte sie. Anders konnte sie es sich nicht erklären, wieso Alen plötzlich nicht mehr auf dem Gehweg zu sehen war. Er hatte sich doch nicht in Luft aufgelöst!
Der Motor heulte auf. Mit Vollgas drehten die Räder durch, bis sie auf dem nassen Boden Halt fanden und der Wagen einen Satz nach vorn machte.
Klara schrie auf. Die Tür schlug gegen die Wand, als sie sie aufriss und in Socken durch das Treppenhaus ins Freie stürzte.
»Alen! Alen!«
Es war total sinnlos, so zu schreien. Aber sie konnte nicht anders. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kamen zwei der Kinder, denen Klara begegnet war, eben von ihrer Tour zurück. Einer der Jungen überquerte die Straße und schaute zu ihr hoch. Weil sie immer noch fassungslos dem verschwundenen Wagen nachstarrte, ohne sich zu rühren, zupfte er sie am Ärmel.
»Ich hab alles gesehen«, verkündete er stolz und drückte den Brustkorb vor.
Klara drehte sich zu ihm. Nur ganz langsam drangen seine Worte in ihr Bewusstsein. »Was hast du gesehen?« Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Lucie tauchte hinter ihr auf und legte ihr einen Mantel um die Schultern.
»Komm rein, du holst dir doch den Tod.« Ihr sachlicher Ton beruhigte Klara. Sie ließ sich von der Straße ins Haus ziehen. »Du musst deine Schuhe holen. Dann fahren wir zur Polizei. Die werden uns helfen. Wirst sehen.«
Klara ließ alles mit sich geschehen. Erst als sie schon beim Haustor war, drehte sie sich noch einmal zu dem Buben um, der sie immer noch erwartungsvoll anschaute. Sie machte sich aus Lucies Umarmung frei und trat erneut in den Regen hinaus. »Was hast du gesehen?«, wiederholte sie und diesmal hatte der Junge ihre volle Aufmerksamkeit.
»Krieg ich was, wenn ich’s dir sage?«
Klara runzelte kurz die Stirn und nickte dann. »Wenn du keine Märchen erzählst …«
»Was krieg ich, wenn ich dir die Autonummer sagen kann?« In seinen Augen sah Klara ein gieriges Glitzern.
Die Autonummer wäre ein Riesenschritt in Richtung Entführer!
Sie griff in die Jackentasche und klimperte mit den Münzen, die ihr bei der Würstchenbude auf den Boden gefallen waren. Sie hielt dem Jungen die flache Hand hin, schloss aber die Finger darum, bevor er zugreifen konnte. »Erst die Nummer«, sagte sie mit strenger Stimme und ließ die Faust wieder in der Tasche verschwinden.
Der Kleine nickte ergeben. Er zögerte kurz und zog die Stirn in Falten. »W-711-M-S«, sagte er dann und starrte seinen Freund an, als könnte er auf dessen Gesicht die Zahlen und Buchstaben ablesen.
Klara schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen forschend an. »Sicher? Erfindest du nicht irgendwas, nur damit ich dir das Geld gebe?«
Er nickte noch einmal heftig mit dem Kopf. »Ganz sicher. So heißt mein Lieblingsauto – der Porsche 711.«
Klara warf Lucie einen fragenden Blick zu. Die zuckte mit den Schultern, notierte die Angaben aber gleichzeitig auf ihrer Handfläche.
»Also gut. Und bei den Buchstaben bist du dir auch so sicher? Hast du da bestimmt nichts durcheinandergebracht? Es war dunkel und nebelig und die Straßenlaterne steht weit entfernt …«
Der schwarze Umhang bauschte sich, weil der Junge heftig die Fäuste in die Hüften stemmte. Auf seinem Gesicht tauchten rote Flecken auf. »Ich weiß das ganz bestimmt! Ich hab deswegen noch meinen Freund Marco angeschubst. Weil doch der Marco und ich so heißen! Mit M und mit S. Marco und Steff. Der Steff bin ich. Wir haben da so ein Spiel. Namen finden zu den Buchstaben auf den Autonummern. Stimmt’s, Marco?« Ein breites Zahnlückengrinsen trieb zwei tiefe Grübchen in seine Wangen. Marco bestätigte alles mit heftigem Nicken.
Klara rieb sich die Stirn. Es war eine Spur. Besser als nichts. Wie versprochen legte sie die Münzen in die Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Blitzschnell schlossen sich die schmutzigen kurzen Finger darüber.
»Aber jetzt geht ihr nach Hause! Und zwar dalli!« Sie lief zu Lucie in den Hauseingang.
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