Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
lief aus.
Je mehr er sich dem Zeitpunkt des Wechsels näherte, um so unsicherer wurde er. Für ihn war es der
Amtsantritt, für die anderen die Beendigung seiner Amtszeit. Niobe hatte Chronos stets am
nächsten gestanden und würde es auch immer tun, und nun war dies von besonderer Wichtigkeit.
Körperlich war er doppelt so alt wie sie, in anderer Hinsicht dagegen sehr viel jünger. Ihre
Liebesaffäre hatte nun etwas Verzweifeltes an sich, als verlangte es ihn nach Bestätigung, daß
einige Dinge so bleiben würden, wie sie es in seinem sterblichen Leben gewesen waren. Er konnte
zwar die Zeit selbst ändern, doch es fehlte ihm an Erfahrung, und das machte ihn äußerst
unsicher. Endlich kam das erste Mal. Niobe wußte es, weil sie ihn vorausblickend danach gefragt
hatte, scheinbar spielerisch, wie oft sie es getan hatten, und danach hatte sie mitgezählt. Nun
war er offensichtlich von ihr hingerissen, fürchtete aber, es ihr zu beichten, und unfähig,
seinem Amt mit der gebotenen Sorgfalt nachzugehen, während sein Geist so aufgewühlt war. Sie
verführte ihn sehr sanft und ließ ihn wissen, daß alles in Ordnung war und sie ihn verstand. Und
das tat sie tatsächlich! In ihrem sterblichen Leben vor so langer Zeit wäre sie entsetzt gewesen,
sich selbst nun so zu sehen. Doch inzwischen war sie sechsunddreißig Jahre weiser geworden und
kannte Chronos besser, als er in diesem Stadium glauben mochte. Er war ein alter Freund, und wenn
sie ihn auch nie geliebt hatte, so bedauerte sie doch nicht den geringsten Teil ihrer Beziehung
zueinander.
Die Affäre war vorüber oder noch nicht begonnen. Schließlich kam Chronos' letzter/erster Amtstag.
Er war so verwirrt, daß sie ihn bei der Hand nehmen, in sein Heim führen und ihm alles erklären
mußte. Es war ein wenig kompliziert, sich mit ihm zu unterhalten, bis er schließlich den Gebrauch
seiner Sanduhr gemeistert hatte.
Die Stelle des Übergangs befand sich in der Nähe eines Jahrmarktplatzes. Chronos stand völlig
ratlos da. Von dem, was er ihr früher erzählt hatte, wußte sie, daß dies eine Stunde nach seiner
Amtsübernahme war. Von da an wies sie ihn in sein Amt ein, den Rest besorgte sein eingespieltes
Personal.
Doch nun stand sie vor einer weiteren Aufgabe, nämlich den neuen Chronos in sein Amt einzuführen.
Das Amt des Chronos war zu wichtig, um es dem reinen Zufall überlassen zu dürfen; sie mußte genau
wissen, womit sie es zu tun hatte. Also kehrte sie zu dem Park zurück und erkundete die
Situation.
Diesmal versteckte sie sich vor Chronos. Sie behielt ihren Körper bei, weil Lachesis noch zu
unerfahren war, während Atropos keinen Schichtdienst hatte. Sie verbarg ihr Gesicht hinter einem
Taschentuch, damit Chronos sie nicht erkannte, falls er sie doch erblicken sollte doch zu diesem
Zeitpunkt war er ihr ja noch gar nicht begegnet. Sie folgte ihm, als er rückwärts in den Park
schlenderte. Ansonsten beachtete ihn niemand; Sterbliche bemerkten die Inkarnationen nur selten,
und der rückwärtslebende Chronos war für sie schwer zu fassen. Er tat ihr leid, wie sie ihn so
verwirrt und beunruhigt sah. Sie wußte, was er empfand, weil er ihr davon erzählt hatte. Eine
sechsunddreißigjährige Beziehung als Freunde und Liebende gewährleistete gegenseitiges Verstehen.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie ihn geliebt hätte, denn es bestand kein Zweifel, daß
er sie liebte. Doch es war notwendig gewesen, so entschied sie, daß einer von beiden objektiv
blieb; das hatte es ihr ermöglicht, die rückwärtslaufende Beziehung in den Griff zu bekommen und
Mißverständnisse nicht allzu ernst zu nehmen.
Warum, so fragte sie sich, hatte Chronos diesen Ort ausgewählt, um den Übergang stattfinden zu
lassen? Es war der nächste Chronos, der dies getan hatte, jener, der aus der Zukunft kam. Er war
nicht an seinen Geburtsort gebunden, nur an den Zeitpunkt seiner Entstehung. Er wählte seinen Ort
selbst aus, und sein Nachfolger mußte zu ihm kommen und vom ihm die Sanduhr übernehmen. Sie wußte
nicht genau, woher der Nachfolger wußte, wo er hinkommen mußte; offensichtlich wurden diese Dinge
irgendwie gelenkt, doch nicht von der Schicksalsgöttin in ihrer üblichen Funktion. Natürlich
hatte Lachesis seinen sterblichen Lebensfaden bemessen, doch wenn einer erst einmal Chronos
wurde, verschwand sein Faden aus dem Webteppich, ganz wie bei einem unvorhergesehenen Tod.
Chronos - jener, den sie so lange gekannt hatte - hatte
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