Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
anzuwachsen.« Sie hob einen der Fäden wieder auf und führte ihn erneut ein und wieder fiel
er heraus. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern, daß sie sie verknotet hätte.«
»Vielleicht habe ich sie falsch gesponnen«, meinte Clotho nervös.
»Das glaube ich nicht. Aber wir können es ja einmal mit ein paar neuen versuchen.«
Clotho spann noch weitere Fäden, Niobe bemaß sie und Atropos schnitt sie zurecht, wobei sie immer
noch Schwierigkeiten hatte, auf Anhieb die genaue Länge zu treffen. So fielen weitere Schnipsel
zu Boden. Doch auch die neuen Fäden blieben nicht am Teppich haften.
Sie wußte nicht, was hier verkehrt war. Der Boden des Heims war mit Abschnitten übersät, dennoch
hatten sie nicht einen einzigen Faden erfolgreich in den Webteppich eingeführt.
Es klopfte an der Tür. Niobe übernahm den Körper, um aufzumachen.
Draußen stand Thanatos, weitaus abweisender in seinem Kapuzenmantel und mit seinem Totenschädel,
als sie ihn in Erinnerung hatte. Das bleiche Gebein seiner Finger krampfte sich ständig zusammen.
Ja, er war wirklich der inkarnierte Tod. »Was hast du denn vor?« fragte er.
Niobe war verdutzt. »Ich versuche bloß, meiner Aufgabe nachzugehen«, erklärte sie.
Thanatos' eckige und knochige Augenhöhlen starrten sie finster an. »Du hast dich
verändert.«
»Wir haben uns alle verändert«, sagte Niobe und ließ Clotho und Atropos sich kurz vorstellen.
»Aber wir haben Schwierigkeiten...«
»Schwierigkeiten!« rief Thanatos und trat ein. Draußen erblickte Niobe, hinter ihm sein
prachtvolles schwarzes Pferd, auf dem sie einst zu Anfang ihrer ersten Tätigkeit geritten war.
»Sechsundzwanzig Babys grundlos gestorben!«
»Babys gestorben?« fragte Niobe. »Ich habe keine Fäden umverlegt und schon gar keine
abgeschnitten!«
»Ach nein? Und was ist das hier?« wollte Thanatos wissen und beugte sich vor, um eine Handvoll
Abschnitte aufzuheben. Er war zornig und jagte ihr Angst ein, obwohl sie wußte, daß er für sie
keine Bedrohung darstellte.
»Einfach nur Schnipsel...«
»Schnipsel!« brüllte Thanatos. »Man beschneidet die Leben nicht von vorne!«
Benommen taumelte Niobe gegen die Seidenwand.
»Von... von vorne?«
Thanatos hielt einen der normalen Fäden in die Höhe. »Das hier ist ein Lebensfaden«, bemerkte er
bissig. »Dies ist das vordere und dies das hintere Ende. Wenn du vom hinteren Ende ein Stück
abschneidest...« Er machte mit seinen beiden Knochenfingern eine schneidende Bewegung »dann kürzt
du das Leben um soviel. Wenn du aber vorne etwas abschneidest, kürzt du das Leben um
soviel«
Und er ließ den ganzen Faden zu Boden fallen. »Dann bleibt nur noch das hier übrig.« Er hielt
zwei Fäden in die Höhe, die sich fast berührten.
»O nein!« rief Niobe entsetzt. »Wir haben sie schon nach Tagen oder sogar nach Stunden
abgeschnitten.«
»Ja, und nun mußten sechsundzwanzig Babys sterben, vergiftet im Krankenhaus«, fuhr Thanatos
grimmig fort. »Weil ein Diätassistent den falschen Behälter erwischte und ihnen Salz statt Zucker
ins Essen gab! Die Sterblichen halten es für einen tragischen Unfall, aber ich wußte sofort, daß
es dein Werk war. Ich mußte diese Babys holen!« Sein maßloser Zorn brachte das Heim
regelrecht zum Beben.
Niobe brach in Tränen aus. Zwar war sie schon in ihren mittleren Jahren, doch machte das keinen
Unterschied. Sie war zu entsetzt, um anders reagieren zu können.
Atropos war es, die den Körper und die Situation in die Hand nahm. »Nun mach sie nicht gleich zur
Schnecke, Tod«, fauchte sie. » Ich habe es getan, und ich bin selbst entsetzt. Ich wußte
nichts davon und der Teufel soll mich holen, wenn ich so einen Fehler noch mal mache!«
Thanatos musterte sie und begriff langsam, was los war. Alle drei... neu im Amt?« fragte er.
»Ohne Erfahrung?«
»Nicht völlig«, fing Atropos an.
Sag es ihm nicht! mahnte Niobe sie. Wenn er e s erfährt, erfährt es Satan
auch!
»Wir haben alle unsere Ämter erst in den letzten paar Tagen angetreten«, sagte Atropos. »Und wie
du deutlich siehst, hat noch keine von uns Erfahrung mit ihrer Rolle.«
»Wie konntet ihr drei zur gleichen Zeit das Amt wechseln?« fragte Thanatos. »Dadurch verliert
eure Arbeit doch an Kontinuität!«
»Ach, was du nicht sagst«, meinte Atropos. »Heute morgen saß ich auf meiner Veranda und wartete,
daß du kommen würdest, um meine Seele zu holen. Und jetzt muß ich mich vor dir dafür
entschuldigen, daß ich Mist gebaut habe.«
Thanatos
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