Inkubus
Zimmer hin und her.
Der Junge konnte erkennen, dass die Flasche einen nassen Abdruck auf dem Couchtisch hinterlassen hatte.
Plötzlich stellte Carboni die Flasche auf der Kokosmatte ab und versuchte hektisch, die andere Satteltasche zu öffnen, wobei er die Flasche umstieß und sich weißer Schaum über die Kokosfasern der Matte ergoss. Carboni machte sich nicht die Mühe, sie wieder aufzustellen, da er fluchend mit dem Schnappverschluss der zweiten Tasche kämpfte. Gespannt oder vielmehr wie ein Dieb, der nicht weiß, was ihn erwartet, schlug er die Klappe hoch und holte eine weitere braune Papiertüte hervor, die genauso aussah wie die mit den Kirschen. Als er sie erbost auf das Sofa warf, rollte ein Apfel heraus, prallte gegen die Lehne des Sofas und fiel dann mitten in die Bierpfütze. Aber der Sozialarbeiter achtete gar nicht darauf. Jetzt drehte er in seinen Händen ein Instrument aus Metall, das silbrig glänzte wie die Chromteile seines Motorrads. An seinem einen Ende befand sich ein merkwürdiger Schraubschlüssel und an dem anderen zwei metallene Halbmonde, die wie ein Gebiss aussahen. Er drehte an dem Schlüssel und das Instrument spreizte sich auf, dann drehte er in die Gegenrichtung und es schloss sich wieder.
In dem Moment raschelte der Vorhang. Der Junge trat aus seinem Versteck.
Als Palermo Luz kennen lernte, hatte er sofort begriffen, dass der Junge in seinem Inneren etwas Besonderes, etwas Fremdes versteckte. Er erkannte es an dessen Art, sich zu bewegen und seine Umwelt zu betrachten. An dem Licht, das sich tief hinter seinen melancholischen Augen verbarg. Luz war ein in sich gekehrtes Kind, das lange Stunden damit verbrachte, die wenigen Bäume und Pflanzen zu betrachten, die es dort in der Peripherie gab, und in diesen Stunden schien die Zeit, ja die ganze Welt stehen zu bleiben. Wenn der Junge den Mund aufmachte, klang er genauso kindlich, wie seine Altersgenossen, aber seine Blicke erzählten die Geschichten eines Erwachsenen.
Palermo hatte sich selbst in dem Jungen wiedererkannt.
In diesem Kind, das verraten worden war.
Und der Junge war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen.
Bis er dann eines Nachts in den Keller eines Rohbaus eingedrungen war.
Seit Monaten war er hinter ihnen her. Seit ihm einer dieser Filme in die Hände gefallen war, in dem einige Kinder im Alter von neun bis elf Jahren sexuell missbraucht wurden. Er hatte ihn sich wieder und wieder angeschaut und mit eigenen Augen gesehen, was er sich bis jetzt nur vorgestellt hatte. Er hatte den Film angehalten und im Standbild die Augen dieser Kinder herangezoomt. Hatte sich von ihrem Schmerz, der erschütternden Überraschung in ihren Augen fesseln lassen, die von nun an nie mehr strahlen würden. War im Dunkel ihrer so jungen und schon so verzweifelten, erloschenen Augen versunken.
Dann hatte er Luz kennen gelernt, und von dem Tag an hatte er es nicht mehr gewagt zu schlafen. Er hatte jede Menge Amphetamine geschluckt, um über diese noch unreife, und doch so von Licht erfüllte Seele zu wachen. Mit der Zeit wurde er immer übellauniger und aggressiver. Man hatte ihn zum Arzt geschickt und vom Dienst suspendiert, aber das war Palermo egal. Er war kein Polizist mehr, nur noch ein Mann, der darum kämpfte, den Albträumen der Kinder ein Ende zu setzen. Und damit auch seinen eigenen Albträumen.
Er besaß eine nicht registrierte Waffe, die er irgendwann einmal einem Kleinkriminellen abgenommen hatte. In dieser Nacht war er ganz allein, die Pistole in der Hand und mit klopfendem Herzen in den Keller des Rohbaus eingedrungen. Er war den Stimmen gefolgt, dem dumpfen Gelächter, dem Stöhnen und dem blendenden Lichtschein in der Dunkelheit dieses verlassenen, abstoßenden Ortes. Er hatte einen Mann mit einer Videokamera gesehen. Die Scheinwerfer strahlten zwei alte Männer mit heruntergelassenen Hosen an, deren runzlige Schwänze in der Luft wippten. Ein anderer Mann zählte Geld.
Und dann sah er Luz, nackt und gefesselt, eine Drahtschlinge schnitt ihm in die Kehle und in die Handgelenke. Er sah, wie die mageren Kinderbeinchen sich verkrampften in dem verzweifelten Bemühen, nicht nachzugeben und die Fersen in der Luft zu halten, sah, wie die Knie zitterten. Der Junge weinte nicht.
Da hatte Palermo mit der Stimme aller Kinder losgeschrien, die Waffe erhoben und zweimal auf den fetteren der beiden alten Männer geschossen, dann feuerte er drei Patronen auf den anderen Alten ab. Schließlich hatte er sich hinter den Mann gestellt,
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