Insel aus Stein: Mittsommerglück (German Edition)
spitzte Ole die Ohren, so als würde er jedes Wort verstehen. Dann bellte er kurz auf und stupste Cassie mit der Nase an, als wolle er sagen: Komm schon, lass uns gehen!
Cassie ließ ihn von der Leine. “Such Hanna, Ole! Such Hanna!”
Sofort lief der Hirtenhund los, so schnell, dass Cassie bereits fürchtete, ihn zu verlieren. Doch immer, ehe er außer Sichtweite geraten konnte, blieb er stehen und wartete, bis Cassie wieder zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann kläffte er aufmunternd und rannte weiter.
Schon bald war Cassie völlig außer Atem, doch sie zwang sich weiterzulaufen. Wie es schien, hatte Ole bereits Hannas Witterung aufgenommen, denn er bewegte sich jetzt zielstrebig, so als wüsste er genau, wo das kleine Mädchen sich aufhielt.
Zweige peitschten Cassie ins Gesicht, als sie sich durch das kleine Wäldchen auf der rückwärtigen Seite der Insel kämpfte, doch es kümmerte sie nicht. Ja, sie spürte den Schmerz nicht einmal. Alles, was zählte, war, Hanna zu finden. Nichts anderes war im Augenblick von Bedeutung.
Und dann blieb Ole plötzlich stehen, legte die Ohren an und jaulte leise. Cassie mobilisierte noch einmal ihre letzten Kräfte und lief auf ihn zu. “Na, was hast du gefunden, alter Junge?”
Auf den ersten Blick konnte sie nichts Außergewöhnliches entdecken. Nur dass der felsige Boden an dieser Stelle über und über mit Moos und wild wucherndem Gestrüpp bedeckt war. Erst als sie ihren vierbeinigen Begleiter erreicht hatte, erkannte sie, was sich wirklich hier verbarg.
Cassie atmete scharf ein. Nur ein paar Schritte von ihrem jetzigen Standort entfernt, klaffte eine Felsspalte im Boden, die durch das allgegenwärtige Grün der Pflanzen beinahe unsichtbar war. Mit klopfendem Herzen trat sie an die Abbruchkante der Grube heran und spähte hinunter in die Dunkelheit.
Zunächst einmal sah sie überhaupt nichts. Erst nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse, und sie erkannte, dass die Felsspalte nicht einmal annähernd so tief war, wie sie zunächst geglaubt hatte. Etwa zwei Meter unter ihr ragte ein schmaler Felsvorsprung, ein winziges Plateau, aus der Wand. Darunter ging es noch einmal gut und gerne zwei Meter abwärts bis zum Boden der Grube. Und dort unten lag, verkrümmt und regungslos, in einem Pfuhl aus stetig ansteigendem Regenwasser – Hanna!
“Mein Gott”, hauchte Cassie entsetzt. Sie brauchte nur Sekunden, um die Gefahr zu erkennen, in der Malins Enkelin schwebte. Zugleich wurde ihr klar, dass ihr keine Zeit blieb, um jemanden zu Hilfe zu holen. In dem Tempo, in dem das Wasser in der Grube anstieg, würde Hanna innerhalb von zwanzig Minute ertrunken sein. So viel Zeit brauchte Cassie schon allein, um das Haus zu erreichen – vom Rückweg ganz zu schweigen. Nein, sie musste jetzt auf der Stelle etwas unternehmen. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich damit selbst in größte Gefahr brachte. Sie zweifelte nämlich ernsthaft daran, dass es ihr gelingen würde, sich wieder aus der Grube zu befreien, wenn sie erst einmal hinuntergeklettert war.
Doch ihr blieb keine andere Wahl, wenn sie nicht tatenlos mit ansehen wollte, wie die kleine Hanna ertrank. Sie konnte nur darauf hoffen, dass sie früher oder später gefunden werden würden. Kurz entschlossen ließ sie sich auf die Knie niedersinken und kroch zum Rand der Felsspalte hinüber. Dann drehte sie sich um und stieg, mit den Füßen voran, in die Dunkelheit hinab. Sekunden später baumelte sie haltlos, nur von der Kraft ihrer Hände gehalten, über dem Abgrund. Übelkeit stieg in ihr auf, als sie mit den Füßen an der glatten Felswand nach Halt suchte. Wenn sie jetzt stürzte und sich irgendwo den Kopf anschlug, würde sie genauso hilflos am Boden der Grube enden wie die kleine Hanna. Schon begannen ihre Finger langsam von der moosbewachsenen Kante abzurutschen, als sie endlich etwas Festes unter sich spürte. Danach war die restliche Strecke bis zu dem kleinen Vorsprung beinahe ein Kinderspiel. Die verbleibenden zwei Meter bis zum Grunde der Spalte ließ sie sich einfach fallen.
Das Wasser am Boden der Grube federte Cassies Aufprall kaum ab. Er war hart, doch sie schaffte es, sich abzurollen und so ohne Knochenbrüche davonzukommen. Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, war sie sofort bei Hanna und untersuchte sie notdürftig. Davon abgesehen, dass die Kleine ohnmächtig war, schien sie keine bedrohlichen Verletzungen davongetragen zu haben. Sie atmete, ihr Puls war ein wenig schwach, aber
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