Insel der blauen Delphine
sie sie das letzte Mal nie benutzt, da es ja in der Nähe ihres Lagers eine andere gab. Immerhin musste ich damit rechnen, dass sie zufällig darauf stoßen und danach die Höhle entdecken würden, und dann musste ich zur Flucht gerüstet sein. Mich verstecken oder fliehen - etwas anderes blieb mir nicht übrig, wenn die Aleuter kamen. Und zum Fliehen benötigte ich ein Kanu. Die Kanus, die meine Leute am Südzipfel der Insel zurückgelassen hatten, waren vom langen Liegen an der Sonne ausgetrocknet und rissig geworden. Dazu kam, dass ich sie nicht allein aus ihrem Versteck zerren und ans Wasser hinunterstoßen konnte. Sie waren zu schwer, selbst für ein Mädchen, das so kräftig war wie ich. Es blieb mir nur das Kanu, das ich nach meiner großen Fahrt an der Landzunge zurückgelassen hatte. Ich begab mich dorthin. Das Kanu lag unter dem Sand begraben. Ich arbeitete mehrere Tage lang, bis ich es endlich freigelegt hatte. Das Wetter war milde, weshalb ich nicht in mein Haus zurückkehrte, sondern auf der Landzunge bleiben konnte und nachts im Kanu schlief. Dadurch ersparte ich mir viel Zeit. Auch dieses Kanu war zu groß für mich. Ich brachte es kaum von der Stelle. Um es zu verkleinern, lockerte ich nacheinander alle Planken, zerschnitt die Sehnen, mit denen sie zusammengebunden waren, und erhitzte das Pech in den Fugen. Mit scharfen Messern aus schwarzem Stein, den man an einer bestimmten Stelle auf der Insel findet, sägte ich die Planken in der Mitte entzwei und fügte sie mit frischem Pech und Sehnen wieder zusammen. Als ich mit dieser Arbeit fertig war, sah das Kanu bei Weitern nicht mehr so hübsch aus . wie vorher, aber ich konnte es wenigstens vom Boden heben und ohne große Mühe ins Wasser schieben. Fast einen ganzen Sommer lang arbeitete ich an dem Kanu und in all dieser Zeit blieb Rontu bei mir. Bisweilen schlief er im Schatten des Bootes oder er rannte an der Landzunge auf und ab, um die Pelikane zu verjagen, die sich dort in Scharen niederlassen, weil es in der Nähe viele Fische gibt. Er rannte sich die Zunge aus dem Hals, aber einen Pelikan erwischte er nie. Er hatte sich gleich an seinen Namen gewöhnt, wie übrigens an viele andere Worte, die für ihn etwas Besonderes bedeuteten. Zalwit, zum Beispiel, hieß Pelikan und Naip hieß Fisch. Ich sprach jetzt oft mit ihm, indem ich absichtlich diese Wörter gebrauchte. Aber ich gebrauchte auch solche, die er nicht verstand. Ich sprach viel mit ihm wie mit meinesgleichen. “Rontu”, sagte ich, als ich ihn beim Diebstahl eines Fisches ertappte, den ich mir für mein Abendbrot aufheben wollte, “Rontu, wie kommt es, dass du ein so schöner Hund und gleichzeitig ein Dieb bist?” Er legte den Kopf von einer Seite auf die andere, obgleich er nur zwei Wörter verstanden hatte, und schaute mich von unten her an. Ein andermal sagte ich: “Heute ist ein schöner Tag. Ich habe das Meer noch nie so still gesehen und der Himmel ist wie eine blaue Muschel. Wie lange, glaubst du, wird das schöne Wetter andauern?” Wieder schaute Rontu mich an, als habe er alles verstanden, und dabei hatte er keine Ahnung, wovon ich sprach. Ich fühlte mich jetzt nicht mehr so einsam. Ja, seit ich Rontu bei mir hatte und mit ihm sprechen konnte, wurde mir erst so richtig bewusst, wie einsam ich vorher gewesen war. Als Nächstes unternahm ich eine Probefahrt in meinem neuen Kanu: Ich musste wissen, wie es sich im Wasser bewährte und ob die Planken dicht hielten. Ich fuhr mit Rontu um die ganze Insel herum. Es war eine lange Reise, die im Morgengrauen begann und erst spät in der Nacht endete. Die Küste der Insel besteht aus Buchten und Höhlen. Einige dieser Höhlen sind sehr breit und erstrecken sich bis tief in die Felsen hinein. Eine solche Höhle befand sich auch unter der Klippe, die mein Haus gegen die Küste abschirmte. Der Eingang war schmal, kaum breiter als das Kanu, doch nachdem wir uns hindurchgezwängt hatten, befanden wir uns in einem Raum, der sich nach den Seiten ausdehnte und größer war als der ganze Platz, den ich oben auf dem Felsen bewohnte. Die schwarzen, glatten Wände wölbten sich hoch über mir. Auch das Wasser war schwarz bis auf eine Stelle, wo Licht durch die Öffnung fiel. Dort schimmerte es golden und man konnte die Fische darin schwimmen sehen. Diese Fische sahen ganz anders aus als die Fische bei den Riffen; sie hatten größere Augen und ihre Flossen flatterten wie loser Tang an ihren Körpern. Von der Höhle aus gelangte ich in einen zweiten,
Weitere Kostenlose Bücher