Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Luft – unverkennbar weiblich.
»Na ja, vielleicht doch nicht alle«, murmelte Jo im Vorübergehen.
Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die schmale Tür. Beim Eintreten sah Nathan sich erstaunt um. Er befand sich in einer voll ausgestatteten, perfekt organisierten Dunkelkammer.
Auf den Holzdielen lag ein alter, fadenscheiniger Teppich, vor dem Fenster hingen dicke Vorhänge, die ringsherum befestigt waren, damit sie sich nicht lösten. Auf den zweckmäßigen grauen Metallregalen standen fein säuberlich aufgereiht Flaschen mit Chemikalien und verschiedene Plastikwannen sowie Kästen aus dickem schwarzem Karton, in denen er Fotopapier, Kontaktbögen und Abzüge vermutete. Außerdem befanden sich in dem Raum ein langer Arbeitstisch aus Holz und ein hochbeiniger Hocker.
»Ich wußte nicht, daß du hier eine Dunkelkammer hast.«
»War früher mal Bade- und Ankleidezimmer.« Jo knipste das Licht an und wandte sich den Abzügen zu, die sie am Vorabend entwickelt hatte und die immer noch auf der Leine hingen. »Ich habe Kate so lange bekniet, bis ich die Wand und die Badausstattung rausreißen und den Raum in eine Dunkelkammer verwandeln durfte. Ich hatte drei Jahre gespart, um mir die Ausrüstung kaufen zu können.«
Sie strich liebevoll über den Vergrößerer. »Den hat mir Kate zum Geburtstag gekauft. Brian hat mir die Regale und den
Arbeitstisch besorgt. Und Lex hat mir das Papier und die Entwicklerflüssigkeit geschenkt. Sie haben mich damit überrascht, bevor ich mein Erspartes dafür ausgeben konnte. Das war mein schönster Geburtstag überhaupt.«
»Die Familie hält eben zusammen«, sagte Nathan und bemerkte, daß sie ihren Vater nicht erwähnt hatte.
»Ja, manchmal schon.« Ihr war klar, welche Frage er nicht gestellt hatte. »Er hat mir den Raum geschenkt. Für meinen Vater war es nicht leicht, eine Wand aufzugeben.« Sie wandte sich ab, um nach einem Kasten zu greifen. »Hier drin sammle ich die Bilder für das Buch, das ich gerade mache. Es sind die besten, obwohl ich noch einige aussortieren muß.«
»Du machst ein Buch? Das ist ja toll!«
»Wird sich noch rausstellen. Bis dahin gibt’s jedenfalls noch eine Menge Arbeit.« Sie trat einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen.
Schon beim ersten Abzug war ihm klar, daß er eine ausgezeichnete Fotografin vor sich hatte. Sein Vater war ein guter Fotograf gewesen, zuweilen begnadet. Aber wenn sie sich als David Delaneys Schülerin betrachtete, dann hatte sie ihren Mentor weit hinter sich gelassen.
Das Schwarzweißfoto war spannungsgeladen, die Linien so scharf und deutlich wie mit einem Skalpell geritzt. Das Bild zeigte eine Brücke, die über tosendes Wasser führte – die weiße Brücke war leer, das dunkle Wasser aufgewühlt, und die Sonne durchbrach im Hintergrund den Horizont.
Ein anderes Bild zeigte einen Baum mit einer weit ausladenden, unbelaubten Krone auf einem frisch gepflügten Feld. Er hätte die Furchen zählen können. Er blätterte die Fotos langsam durch, ohne ein Wort zu sagen, immer wieder erstaunt, was sie alles sah, auf den Film bannte und mit sich nahm.
Er kam zu einer Nachtaufnahme, die ein Ziegelgebäude mit dunklen Fenstern zeigte – nur ganz oben waren drei hell erleuchtete Fenster zu sehen. Er konnte die nassen Ziegelsteine erahnen, den leichten Nebel, der über schwarzen Pfützen lag. Und er fühlte die eisige, feuchte Luft förmlich auf seiner Haut.
»Sie sind phantastisch, und du weißt es. Du mußt entweder total neurotisch oder bescheiden sein, wenn du nicht wahrhaben willst, wie begabt du bist.«
»Bescheiden bin ich nicht«, erwiderte sie mit einem schiefen Lächeln. »Schon eher neurotisch. Kunst erfordert gewisse Neurosen.«
»Neurotisch würde ich nicht sagen.« Er ließ das letzte Foto sinken, um in ihrem Gesicht zu forschen. »Ich glaube, du bist einsam. Warum bist du so einsam?«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Meine Arbeit …«
»Ist brillant«, unterbrach er sie. »Und zugleich traurig. Jedes dieser Fotos sieht aus, als wäre gerade jemand weggegangen, und nun ist niemand mehr da außer dir.«
Widerstrebend nahm sie ihm das Bild aus der Hand und legte es zurück in den Karton. »Porträtfotografie interessiert mich eben nicht. Ist nicht mein Ding.«
»Jo.« Behutsam berührte er mit seiner Fingerspitze ihre Wange und erkannte an dem Aufflackern in ihren Augen, daß sie diese einfache Geste erschreckte. »Du schließt die Menschen aus. Deine Bilder macht das sehr
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