Insel der Traumpfade Roman
der richtige Zeitpunkt, sich auf Eingeborene zu verlassen. Sie sind schmutzig und haben keine Ahnung von richtiger Krankenpflege.« Er ergriff noch einmal ihre Hände. »Alice hat dir gestern Abend das Leben gerettet. Warum kannst du ihr nicht vertrauen?«
Nell funkelte ihn an, hin- und hergerissen zwischen der Erkenntnis, dass er recht hatte, und dem tief sitzenden Verdacht, dass Alice Unglück über Moonrakers gebracht hatte. »Na schön«, sagte sie widerstrebend, »aber hol trotzdem Gladys und Pearl. Ich will ihre Beeren und Kräuter, wenn ich den Tag überstehen soll.«
»Ich hole auch noch mehr Rum«, sagte er ruhig.
Nell zuckte zusammen, als sie sich auf dem Bett zur Seite drehte. Es bestand kein Zweifel, dass sie versorgt werden musste, ihr war schon schwindelig und warm, und das hatte nichts mit dem Rum zu tun. Wahrscheinlich würde sie Fieber bekommen.
Alice fischte die Nadel und einen dicken Baumwollfaden aus dem kochenden Wasser und legte sie auf einen sauberen Leinenstreifen. Sie hatte unruhig geschlafen, und ihre Hände zitterten, als sie den Wassertopf vom Herd nahm und beiseite stellte.
»Wartet da, bis meine Frau bereit für euch ist!«, sagte Billy an der Eingangstür.
Einem Murmeln folgte ein unverständliches Gebrabbel.
Mit weit aufgerissenen Augen betrachteten zwei Frauen Alice neugierig durch die offene Tür. Sie hatten nur wenig Ähnlichkeit mit den afrikanischen Eingeborenen, denn sie waren kleiner und zierlicher, hatten wildes, ungekämmtes Haar, bernsteinfarbene Augen und dürre Gliedmaßen. Ihre Kleidung sah aus, als wären es von Nell abgelegte Lumpen, und sie stanken zum Himmel. »Was machen die hier?«, fragte Alice.
»Nell braucht ihre Arznei«, sagte Billy kurz angebunden.
»Du solltest sie nicht in ihre Nähe lassen!«, warnte sie.
Billy zuckte mit den Schultern. »Nell glaubt an ihren Hokuspokus, und ich schätze mal, dass ein paar Blätter und Beeren nicht viel schaden können. Die Eingeborenen verwenden sie andauernd bei Geburten.«
Alice unterdrückte das Bedürfnis zu widersprechen. Es ging sie nichts an, und wenn Nell an so einen Unsinn glaubte, dann würde sie ohne Zweifel Trost darin finden. Sie beendete ihre Vorbereitungen, und Jack begann aus der Bibel vorzulesen. Sie drehte sich um, die Arme voll beladen, und betrachtete die traurige kleine Szene.
Billy hatte sich an den Tisch begeben und saß dort mit jeweils einem Zwilling auf den Knien, Amy lehnte an seiner Hüfte undlutschte am Daumen. Der winzige Sarg stand vor ihnen auf dem Tisch – eine schreckliche Mahnung an die Tragödie der letzten Nacht, ein Vorbote des vor ihnen liegenden Tages.
Jack schaute von den zerlesenen Seiten auf und nickte ihr aufmunternd zu. Sie atmete tief durch und klopfte leise an Nells Tür.
Nells blaue Augen betrachteten sie feindselig, woraufhin Alice, ungewohnt achtlos, etwas Wasser verschüttete, als sie die Schüssel auf die Kommode neben dem Bett stellte. »Deine Hand sollte lieber etwas ruhiger sein, wenn sie die Nadel hält«, knurrte Nell.
»Ich werde ruhig genug sein, solange du nicht gegen mich ankämpfst«, erwiderte Alice mit einer Gelassenheit, die sie eigentlich gar nicht empfand. Nell schnaubte höhnisch, doch Alice ging darauf nicht ein. Die Zeit der Aussöhnung war gekommen.
Alice war froh, dass sie sich zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatte und dass sie Nells funkelnden Blick gleichmütig erwidern konnte. Sie sah eine Frau, die nie klein beigeben würde, und sei die Probe noch so hart, eine Frau, die unter ihren Verletzungen und ihrem Verlust litt, aber entschlossen war, es nicht zu zeigen. In Alice stieg ein Gefühl der Bewunderung auf, und sie fragte sich, ob sie angesichts solcher Widrigkeiten ebenso tapfer wäre. Inständig betete sie, einer solchen Prüfung nie ausgesetzt zu werden.
Ein Blick in die trotzigen Augen sagte ihr, dass Nell ihr nicht verziehen hatte, obwohl sie die schlimmen Ereignisse der vergangenen Nacht gemeinsam durchgemacht hatten. Doch sie hatte erkannt, warum die andere Frau ihr feindselig gegenüberstand, und nahm es hin. Nell hatte Moonrakers beherrscht, war Herrin in ihrem Haus, eine unangefochtene Matriarchin – und sie hatte Alice und die Konflikte, die sie mit sich brachte, als Bedrohung angesehen.
Das Schweigen dehnte sich aus, während sie einander betrachteten, und Alice wurde klar, dass dieser Augenblick ihre zukünftige Beziehung bestimmen würde – und dass sie den ersten Schritt tun musste. »Ich wünsche von ganzem
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