Insel der Verlorenen Roman
tief in den Wald hinein, dass sie nicht mehr wusste, wo die Straße war. Etwas flog ihr ins Gesicht, aber sie schrie nicht. Sie wurde ohnmächtig und schlug mit dem Kopf auf einer Wurzel auf.
Als sie stöhnend und würgend wieder zu sich kam, war es so dunkel, dass sie nichts mehr sehen konnte. Im Unterholz raschelte und knackte es, Vögel kreischten und die hohen Tannen knarrten im Wind. Auf Händen und Füßen tastete sie sich vorwärts, kam zu dem hohlen Baum und verkroch sich darin. Erst im Morgengrauen sah sie, dass ihr Versteck sich in einem Baum befand. In der Umgebung standen weitere gewaltige Bäume, und über dem Eingang
des Lochs hing eine Schlingpflanze, deren Ranken so dick waren wie ihre Taille.
Den ganzen Tag über hörte sie in der Ferne menschliche Stimmen, doch sie rief nicht um Hilfe, weil sie Angst hatte, der Mann mit den Zahnlücken könnte in der Nähe lauern. Erst als die Dämmerung hereinbrach, begann sie zu rufen, und als dann jemand antwortete, dachte sie an den schönen Mann, der sie an Land gezogen hatte.
Der Mann, der sie fand, sah dem schönen Mann vom Landeplatz zwar ähnlich, aber er war es nicht. Er hatte kurze Haare und graue Augen. Doch auch er lächelte freundlich. Seine Zähne waren weiß wie Schnee und keiner fehlte. Es war zu dämmerig, um mehr zu erkennen, aber als er ihr die Hand hinstreckte, ergriff Catherine sie und hielt sie fest, weil er sie an den schönen Mann erinnerte, der ihr so freundlich ans Ufer geholfen hatte. Auf der Straße sah sie ihn dann besser. Er war älter als ihr Held vom Landeplatz, doch seine Haut war genauso braun und seine Haare genauso dunkel. Die beiden hätten Brüder sein können. Diese Feststellung bewog sie dazu, ihm zu vertrauen und mit ihm mitzugehen.
»Dir ist kalt«, sagte der Mann. »Bitte nimm mein Hemd. Ich will nichts von dir, Kitty, aber ich muss dich anfassen, um es dir anzuziehen.«
Selbst wenn er etwas anderes von ihr gewollt hätte, wäre sie zu erschöpft gewesen, um sich zu wehren. So stand sie einfach nur da, während er sein Hemd auszog und ihr die Ärmel über die Arme streifte. Die Hemdzipfel ließ er sie selbst vor dem Bauch zusammenknoten.
»Ist dir jetzt wärmer?«
»Ja.«
Irgendwie schaffte Catherine es, sich auf den Beinen zu halten, bis sie den letzten Abschnitt der Straße erreichten. Nun ging es steil bergab in eine andere Dunkelheit hinein, in der flackernde Feuer und, weiter draußen, weiße Wirbel leuchteten. Catherine stolperte und stürzte schwer.
»Jetzt geht es nicht mehr anders«, sagte Richard, löschte die
Fackel und warf sie weg. Dann hob er Catherine hoch, legte sie sich um die Schultern, hielt mit der einen Hand ihre Handgelenke und mit der anderen ihre Beine fest und marschierte sicheren Schrittes los, als wäre es Tag. Am Fuß des Berges stand ein Haus. Er schritt darauf zu und klopfte an die Tür.
»Stephen!«, rief er.
Der Mann vom Landeplatz öffnete. »Na so was«, sagte er mit freundlichem Spott in den Augen. »Entführst du jetzt Frauen, Richard?«
»Das arme Kind hat die letzte Nacht im Wald von Cascade verbracht. Irgendein Strolch ist über sie hergefallen und hat ihre Sachen gestohlen. Bitte begleite mich mit einer Fackel nach Hause.«
»Lass mich die Kleine tragen, Richard«, sagte Stephen. »Du bist doch vollkommen erschöpft.«
Oh ja, bitte trag mich!, flehte Catherine lautlos. Aber Richard Morgan schüttelte den Kopf.
»Nein, ich hab sie nur das letzte Stück getragen. Sie hat Läuse. Es reicht, wenn du mich heimbegleitest.«
»Was macht es schon, wenn sie Läuse hat. Bring sie rein!«, sagte Stephen energisch und hielt die Tür weit auf. »Bei dir ist kein Feuer an, und da du bei mir essen wolltest, hast du nichts zu essen vorbereitet. Bring sie rein!« Sein Herz krampfte sich zusammen, als er Richards Gesicht sah. Es schien wie verwandelt. Wer weiß schon, warum jemand sich verliebt und in wen? Richard ist seinem Schicksal begegnet wie ich auf der Alexander . »Ich habe Fischsuppe. Die wird sie vertragen.«
»Zuerst die Läuse, sonst wird sie krank. Am nötigsten hat sie ein Bad und saubere Kleider. Hast du genug warmes Wasser? Brauchst du kaltes? Ich laufe schnell zu Olivia Lucas rüber und hole, was fehlt.«
»Ich habe genug Wasser, aber keinen Badezuber und keinen Läusekamm. Sieh nach, ob Olivia uns aushelfen kann.«
Richard ging und ließ Stephen mit Catherine allein. Die Frau hatte sich schon etwas erholt und blickte Stephen voller Bewunderung an - mit den
Weitere Kostenlose Bücher