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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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der ein gutes Herz hatte. Beide waren Freie, wie sie sagten, und beide waren Aufseher. Doch während Richard ihr Furcht einflößte, fühlte sie sich zu Stephen hingezogen. Kitty hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie auf der Insel erwartete, doch irgendwie spürte sie, dass die Entscheidung über ihr künftiges Schicksal nicht bei Stephen lag, sondern bei Richard.
    Die gewaltigen Tannen am Teich machten ihr Angst, sie konnte nichts Schönes an ihnen finden, und so machte sie sich mit einem
tiefen Seufzer auf den Rückweg zum Haus. Im hinteren Teil des Gartens erblickte sie Richard. Nur mit einer Segeltuchhose bekleidet, verband er gerade eine Reihe von Steinen im Boden mit Mörtel. Er hatte kräftige Schultern und Arme, und die glatte Haut auf seinem Rücken wogte wie ein Fluss. Sein Anblick weckte bei Kitty keinerlei zärtliche Gefühle oder weibliches Verlangen. Im Gegenteil, er schüchterte sie ein, und sie fühlte sich in ihrem ersten Eindruck bestätigt, dass Richard eine Respektsperson war, der man Gehorsam schuldete. Außerdem war er alt. Nicht runzlig oder grämlich, nur eben alt. Obwohl er ein starker, schöner Mann war. Aber sie hatte Stephen Donovan zuerst gesehen, und weiter vermochte sie nicht zu sehen.
    Stephen! Er war ein Bild von einem Mann - stark und gut gewachsen, dazu jugendlich und unbeschwert, mit leuchtenden Augen und einem strahlenden Lächeln. Und er war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst. Bei ihrer Landung hatte er mit einigen keckeren Frauen gescherzt, über ihre Anspielungen und Anzüglichkeiten aber hinweggesehen, ohne sie zu kränken. Kitty wäre nie in den Sinn gekommen, dass diese erfahrenen Frauen auf den ersten Blick erkannt hatten, woran sie mit ihm waren. Kitty wusste nicht, dass es Menschen gab, die eine Schwäche für das eigene Geschlecht hatten. Arbeitshäuser der anglikanischen Kirche weihten nicht in die Geheimnisse des Lebens ein. Sie bläuten den Kindern Gehorsam ein, nutzten sie nach Kräften aus, solange sie jung waren, und entließen sie dann ins Leben, damit sie als kümmerlich entlohnte Dienstboten und Analphabeten ihr Dasein fristeten, überzeugt vom eigenen Unwert und in völliger Unkenntnis dessen, was in der großen weiten Welt vorging. Natürlich hatte Kitty im Gefängnis Ausdrücke wie warmer Bruder oder Hinterlader gehört, doch sie hatten ihr nichts gesagt. Und dass es auch Frauen gab, die sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten, und solche Frauen neben ihr auf der Lady Juliana gelebt hatten, war ihr gleichfalls entgangen…
    Stephen, Stephen, Stephen… Ach, warum hatte nicht er sie gefunden? Warum durfte sie nicht in seinem Haus wohnen? Und was wollte Richard von ihr?

    Richard richtete sich auf und streifte ein Hemd über. »War es sehr schlimm?« Er hielt ihr augenzwinkernd die Tür auf.
    »Nein, Sir, das Bad hat gut getan.«
    »Richard. Nenn mich einfach nur Richard.«
    »Das wäre ungehörig«, sagte Kitty. »Sie könnten mein Vater sein.«
    Zum ersten Mal bemerkte sie einen Zug an ihm, der ihr später noch häufig auffallen sollte. Er blieb äußerlich völlig ungerührt, verzog keine Miene, machte keine unpassende Geste, und doch ging etwas in ihm vor, etwas Geheimnisvolles, das sich den Blicken entzog.
    »Ich bin in der Tat alt genug, um dein Vater zu sein. Trotzdem bin ich für dich einfach nur Richard. Auf Förmlichkeiten legen wir hier keinen Wert, wir haben Wichtigeres zu tun. Ich bin keiner von deinen Wärtern, Kitty. Ich bin ein freier Mann, gewiss, aber bis vor kurzem war ich Sträfling wie du. Nur guter Arbeit und einem glücklichen Geschick habe ich es zu verdanken, dass ich begnadigt wurde.« Er führte sie zum Tisch und gab ihr Maisbrot, Salat, Kresse und Wasser.
    »War Stephen auch Sträfling?«, fragte sie, gierig essend.
    »Nein, nie. Stephen ist Schiffsmaat.«
    »Sind Sie schon lange befreundet?«
    »Eine kleine Ewigkeit.« Richard stopfte sich das Hemd in die Hose, nahm Platz und fuhr sich nervös durch das kurz geschnittene Haar. »Weißt du eigentlich, warum du hier bist?«
    »Was gibt es da zu wissen?«, fragte sie verdutzt. »Ich bin hier, um zu arbeiten, bis ich meine Strafe abgebüßt habe. Zumindest hat das der Richter bei meiner Verhandlung gesagt.«
    »Hast du dich nie gefragt, warum man dich und die zweihundert anderen Frauen auf Schiffe verfrachtet und hierher gebracht hat? Und warum ihr hier, sechzehntausend Meilen von England entfernt, eure Strafe abbüßen sollt? Findest du das nicht merkwürdig? Hier gibt

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