Insel hinter dem Regenbogen (German Edition)
die Straße entlang, doch sie konnte keine Autoscheinwerfer ausmachen. Hastig rannte sie über Alices Rasen und die Stufen zur Veranda hinauf. Ihr Herz klopfte längst nicht mehr nur vor Anstrengung schneller. Vorsichtig öffnete sie die Eingangstür.
Im Haus war es stockfinster. Einen Moment lang musste sie bei der Tür stehen bleiben, bis ihre Augen sich angepasst hatten. Warum hatte Lee für Alice kein Licht brennen lassen? Möglicherweise hatte er vor, so schnell wieder zurück zu sein, dass er es nicht für nötig gehalten hatte.
Oder aber Alice brauchte gar kein Licht mehr.
Sie wagte es nicht, selbst die Lampen einzuschalten. Sie wartete, bis ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten. Die Blitze, die am Himmel zuckten, halfen ihr ebenfalls. Als der nächste Blitz das Zimmer erhellte, entdeckte sie eine Steckdose in der Nähe der Tür, neben einem kleinen Couchtisch. Sie bückte sich und betrachtete die Blickrichtung. Soweit sie es beurteilen konnte, würde nichts die Sicht ins Zimmer behindern, und die Stelle war nicht zu auffällig, weil der kleine Tisch danebenstand. Und das Beste war, dass Alice einen eigenen Duftstecker dort angebracht hatte, was den zarten Fliederduft erklärte, der immer dann verströmt wurde, wenn jemand durch die Tür ging.
Tracy entfernte den echten Lufterfrischer, der kleiner und ein bisschen anders geformt war als der Erfrischer mit der versteckten Kamera. Dennoch sahen die beiden sich ähnlich genug, dass Lee nur dahinterkommen würde, wenn er argwöhnisch genug war, um sich die Geräte genauer anzusehen. Vermutlich waren sie also auf der sicheren Seite. Sie bezweifelte, dass er einer der Frauen genug zutraute, um einen solchen Verdacht auch nur in Betracht zu ziehen.
Sie war wütend auf sich selbst, dass sie schon wieder auf einen Soziopathen hereingefallen war, nachdem sie sich doch gerade erst von einem hatte scheiden lassen. Wenn das hier alles vorbei war, würde sie sich erst einmal in Therapie begeben.
Es dauerte nur wenige Sekunden, den Lufterfrischer mit der Kamera anzuschließen und den anderen in der Tasche verschwinden zu lassen. Dann durchquerte sie das Zimmer und ging den Flur entlang. Olivia war nicht da. Entweder war sie mit Lee zusammen weggefahren, oder sie war nach dem Tag im Freizeitzentrum zu einer Freundin nach Hause gegangen. Tracy war erleichtert gewesen, Olivia an diesem Morgen im Freizeitzentrum zu erblicken. Das Mädchen war noch niedergeschlagener, noch stiller als sonst und hatte noch weniger Lust zu reden, doch wenigstens konnte Tracy sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihr gut ging.
Doch wer wachte über Alice?
An der Tür zu Alices Zimmer blieb Tracy stehen und lauschte, ehe sie klopfte. Wie nicht anders zu erwarten, kam keine Reaktion – auch nicht, als sie rief und lauter klopfte. Sie drehte den Türknauf und wollte die Tür aufschieben. Doch sie ließ sich nur einen Spaltbreit öffnen; weiter ging es nicht.
„Alice?“ Tracy stemmte ihre Schulter gegen die Tür und schob. „Alice, bist du da drin?“
„Tracy …“
Tracy hatte vor ihrem inneren Auge schon einen Körper vor der Tür liegen sehen – Alices Leichnam. Sie war so erleichtert, die Stimme der alten Dame zu hören, dass ihr Tränen in die Augen schossen. „Alice, geht es dir gut?“
„Lee …“
„Schon gut. Er ist nicht da. Er ist weg, aber ich weiß nicht, wann er wiederkommt.“
„Versucht …“
Alice verstummte.
„Alice? Kannst du die Tür aufmachen? Kannst du mich reinlassen? Hör zu, ich hole dich hier raus, ja? Was auch immer hier los ist, wir kriegen das schon hin. Aber wir müssen dich erst zu mir nach Hause bringen, ja?“
„Kleider…“
Tracy versuchte zu verstehen. „Wir ziehen dir was an, keine Sorge. Mach einfach auf.“
„Kleiderkommode. Davor …“
Jetzt verstand Tracy. Irgendwie war es Alice gelungen, die Kommode vor die Tür zu schieben. Und dafür gab es nur einen einleuchtenden Grund: Alice hatte Angst, dass etwas Furchtbares passieren würde, wenn Lee zurückkam.
Die alte Frau litt nicht an Demenz, und sie war auch nicht wahnhaft. Maribels Anruf hatte diese Möglichkeiten ausgeschlossen. Alice hatte Angst – und das zu Recht.
Fieberhaft dachte Tracy nach, was nun zu tun war. Wenn Alice die Kommode von der Tür rücken könnte, würde sie das tun. Doch die Kommode erst mal dorthin zu befördern hatte vermutlich schon all ihre Kraft verbraucht. Tracy versuchte, sich Alices Fenster ins Gedächtnis zu rufen. Konnte
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