Insel meines Herzens
privilegiert, sein Volk dermaßen vernachlässigen kann, ist mir einfach rätselhaft.«
»Im Grunde seines Herzens weiß er wahrscheinlich, dass die Leute ihn nur als eine Art Symbol sehen, und das missfällt ihm. Er möchte gebraucht werden, nicht nur geduldet.«
»Möge der Allmächtige diesem Land helfen, wenn es jemals einen solchen Regenten brauchen wird!«
»Da stimme ich dir zu. Aber wie würdest du dich in seiner Position fühlen? Angenommen, der Vanax hätte keine Bedeutung und würde nur zum Schein auf dem Thron sitzen...« Vorsicht – um Himmels willen, Vorsicht!
»In diesem Fall wäre ich kein Vanax«, erwiderte er ohne Zögern.
»Und was wärst du dann?«
Nur einige Sekunden verstrichen, bevor er antwortete. Im Garten war es still geworden, Joanna und Alex vergnügten sich anderswo. »Ein Bildhauer. Ich würde meine Tage damit verbringen, Figuren aus Stein zu meißeln.«
»Würde dich die Kunst glücklicher machen?«
»Ich bin der Vanax. Diesem Schicksal kann ich nicht entrinnen. Sein Glück muss man finden, indem man sich selbst treu bleibt. Meinst du das nicht auch?«
Teilte sie seine Ansicht? »Eigentlich dachte ich, man wäre glücklich, wenn man sich in Sicherheit befindet, zusammen mit den Menschen, die man liebt.«
Atreus trat näher zu ihr, Schnee im Haar, Hitze in den Augen. »Würde dir das genügen, hättest du Akora nie verlassen.«
Entschlossen bekämpfte sie den Impuls, vor ihm zurückzuweichen. »Meine Situation ist ungewöhnlich.«
»Gewiss. Aber davon abgesehen – würdest du dir nicht etwas mehr wünschen?«
Viel zu nahe war er herangekommen – viel zu tief schien er in ihre Seele zu blicken. Was sie tat, wurde ihr kaum bewusst. Sie bückte sich und ergriff eine Hand voll Schnee. Auf diese kurze Distanz konnte sie den Vanax gar nicht verfehlen.
Joanna, eine vernünftige Frau, war davongelaufen. Aber Brianna hielt die Stellung – vor allem, weil sie sich vor lauter Verblüffung über ihr eigenes Wagnis gar nicht rühren konnte. Und Atreus spuckte Schnee aus, schluckte seine Verwirrung hinunter und tat, was ihn die langjährige Ausbildung zum Krieger gelehrt hatte.
»Oh – eh...« Die Beine flogen unter ihr weg, und dann lag sie rücklings im Schnee, starke Arme hatten den Aufprall gemildert und hielten sie eisern fest.
»Offensichtlich muss ich dir Manieren beibringen«, bemerkte er lächelnd.
»Ich lasse mich nicht gern einschüchtern.«
»Soll das ein Witz sein? Wann hast du dich jemals von irgendetwas oder irgendjemandem einschüchtern lassen?«
»Bisher nicht. Aber du...« Wohlweislich verstummte sie, von der herausfordernden Glut in seinem Blick gewarnt. Nein, er würde sie nicht in neue Versuchung führen. »Schon gut – und jetzt möchte ich aufstehen.«
»Ist dir kalt?«
»Ja.«
»Wenn das so ist...« Blitzschnell, ohne jede Vorwarnung, schwang er sie herum, so dass sie auf ihm lag – in einer sanften und trotzdem unbarmherzigen Umarmung gefangen. Wie pures Gold glänzten seine Augen. Und obwohl er schon vor Wochen aus Akora abgereist war, erweckten seine Wangen immer noch den Eindruck, die Sonne hätte sie geküsst. Die Luft war kühl, Atreus’ Körper warm, und Brianna – eng an ihn geschmiegt – glaubte zu brennen.
»Lass mich los«, forderte sie, was nicht einmal in ihren eigenen Ohren überzeugend klang.
»Dafür musst du bezahlen.«
»Was?« In ihrer akoranischen Familie hatte sie Brüder. Also kannte sie die Spielregeln. »Das darfst du nicht von mir verlangen.«
»Doch, ich wurde nicht gewarnt.«
»Seit wann ist das nötig?«
»Nach einer altehrwürdigen Sitte bekundet ein Krieger seine Absichten. Und du hast mich aus dem Hinterhalt angegriffen.«
»Unsinn, ich stand direkt vor dir!«
»Trotzdem...« Er drückte sie noch fester an sich. »Bin ich unbescheiden, wenn ich dich ersuche, Buße zu tun?«
»Darum ersuchst du mich nicht, du befiehlst es. Und es hängt von der Buße ab.«
Natürlich würde er sie küssen, das wusste sie, und diese Erkenntnis schürte ihre Erregung. Oh ja, sie wollte es, sie begehrte ihn, und ausnahmsweise widerstrebte es ihr, klar zu denken.
»Küss mich«, flüsterte er. Als sie bestürzt nach Atem rang, schenkte er ihr ein seltsam zärtliches Lächeln. »Küss mich, Brianna, statt dass ich dich küsse. Ist das zu viel verlangt?«
»Da gibt es keinen Unterschied.«
»Oh doch, das wissen wir beide – es ist ein sehr großer Unterschied.«
Nein, unmöglich – niemals hatte sie – es war nicht
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