Insel meines Herzens
begann Atreus.
»Ja...« Briannas Stimme klang gepresst. Bebend umklammerten ihre behandschuhten Finger die Reling.
»Du bist sehr tapfer.«
Mit diesem Lob erzielte er das gewünschte Ergebnis. Sie hörte auf, die Wellen anzustarren, und drehte sich zu ihm um. »Wieso sagst du das?«
»Nun, du bist hier an Bord, auf dem Meer. Nach allem, was du in deiner Kindheit erlitten hast, müsste man’s dir verzeihen, wenn du beschließen würdest, für den Rest deines Lebens nur noch festen Boden unter den Füßen zu spüren.«
Davon hatte er nicht sprechen wollen – nicht jetzt, vielleicht nie. Doch die Worte ließen sich nicht zurücknehmen, und das stimmte ihn sogar froh. Was ihr widerfahren war, durften sie nicht schweigend verdrängen. Über jene Tragödie zu reden, erschien ihm unabdingbar, so schwer es ihnen auch fallen würde.
Brianna lächelte gequält. »Zählt deine Einfühlungsgabe zu den herausragenden Fähigkeiten eines Vanax?«
»Nein, ich glaube, sie hängt eher mit meinem Bestreben zusammen, die Welt aus einem besonderen Blickwinkel zu betrachten.«
»Aus der Perspektive eines Künstlers?«
Wie prompt sie den Nagel auf den Kopf trifft, dachte er. Nur wenige Menschen erkennen so glasklar, was für ein Mann ich wirklich bin – an einem Leben gehindert, das ich mir aufgebaut hätte, wäre ich nicht der Erwählte... »Nun, es hat mit meinem Prinzip zu tun, Einzelheiten zu sehen, große und kleine.« Ganz leicht berührte er ihre Schulter. »Deine Nerven flattern, und ich frage mich, warum. Vermutlich hat es aus einem ganz bestimmten Grund so lange gedauert, bis du in den akoranischen Königspalast gekommen bist. Um ihn zu erreichen, musstest du das Binnenmeer zwischen unseren Inseln überqueren. Was hat dich letzten Endes dazu veranlasst?«
Brianna zuckte die Achseln und wich vor ihm zurück. »Nach all den Jahren beschloss ich, dem Gefängnis meiner Angst und der bösen Erinnerungen zu entrinnen.«
»Zweifellos ein guter Beweggrund.« Atreus’ Hand sank hinab, weil er die Distanz respektierte, die sie wahren wollte. »Wie viel blieb in deinem Gedächtnis haften?«
Einige Sekunden lang zauderte sie. »Was jenes Unwetter betrifft, das mich an die akoranische Küste geschwemmt hat? Fast nichts, nur Fragmente, die ich nicht zusammenfügen kann.«
Atreus bemühte sich, seine Erleichterung zu verbergen. »Vielleicht wäre es besser, du würdest gar nicht versuchen, dich darauf zu besinnen.«
»So viel habe ich schon verloren. Deshalb möchte ich diesen kleinen Teil meiner Vergangenheit nicht auch noch begraben.«
»Verständlich. Aber was geschehen ist, lässt sich nicht ändern. Selbst die Gegenwart zieht so schnell an uns vorbei, dass wir manchmal nur flüchtige Momente wahrnehmen. Also müssen wir die Zukunft so gestalten, wie sie uns vorschwebt.«
»Für mich geht alles ineinander über. Ohne meine Vergangenheit zu kennen, kann ich nicht an meine Zukunft denken.«
Diese Erklärung missfiel ihm, aber er akzeptierte sie. Briannas Zukunft stand ohnehin fest, obwohl sie das nicht wusste. Bald würde sie es erfahren und ihr Schicksal auf sich nehmen. Dafür wollte er sorgen – und vorerst einfach nur ihre Angst lindern. Er zeigte auf das Meer. »Wie viele Farben siehst du da?«
»Farben? Die Wellen sind grau.«
»Tatsächlich? Und der Schaum des Kielwassers?«
Sie reckte den Hals und spähte zum Heck der Schaluppe. »Weiß – an einigen Stellen hellgrün – und dunkelblau, fast schwarz. Und in der Schwärze schimmert ein bisschen Grün.«
»Wo die Sonne hinscheint, leuchtet das Wasser golden.«
»Möchtest du mir die Schönheit des Meeres vor Augen führen?«
»Du sollst es so sehen, wie es ist, nicht so, wie es in deiner Erinnerung erscheint – wie du es fürchtest.«
Eine Zeit lang schaute sie ihn schweigend an, und er glaubte schon, sie würde nicht antworten. Doch dann fragte sie: »Meißelst du nicht nur Statuen? Malst du auch?«
»In meiner Jugend habe ich’s versucht.«
»Oh, in deiner Jugend?« Ihr Lächeln neckte ihn. »Bist du schon so alt?«
Er war sechs, fast sieben Jahre älter als sie. Dank ihrer Intelligenz und ihres Mutes bestand kein allzu großer Unterschied zwischen ihnen. Und weil er sein Leben mit Brianna teilen würde, gewährte er ihr einen Einblick in seine Seele. »Die Jahre, bevor ich zum Vanax gewählt wurde, scheinen in weiter Ferne zu liegen – als würden sie einem anderen Leben angehören. So vieles ließ ich hinter mir zurück. Trotzdem gibt es etwas,
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