Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Dorf in der schönen Umgebung: all die glitzernden Wasserflächen, in denen sich der rötlich goldene Schimmer des Sonnenlichts spiegelte, die Teiche und die klaren, flinken Bächlein und Bäche, die sie speisten. Ich stellte mir Anne dort vor, wie sie ein Leben führte, das sie vielleicht noch aus jener Zeit kannte, bevor die Krankheit sie ihrer Eltern und ihrer Familie beraubt hatte. Dann dachte ich an jene junge Frau – nicht allzu viel älter als Anne selbst –, die uns damals in der Nacht, als Calebs Vater dem Tode nahe gewesen war, in ihrem vom Feuer erwärmten wetu aufgenommen hatte. Anne war nicht jene Frau und würde sie auch nie sein können. Sie konnte ihr bisheriges Leben nicht einfach ablegen wie eine Schlange ihre Haut. Die Jahre zusammen mit den Engländern würden an ihr haften, ob das nun gut oder schlecht war. Welchen Nutzen sie in einem solchen Leben aus ihrer außergewöhnlichen Begabung ziehen könnte, war nur schwerlich vorstellbar. Statt ein Leben als Studentin und später als Gouvernante zu führen, würde sie sich in das Los einer squa fügen müssen – mit all der knochenharten Schufterei auf den Feldern und am heimischen Herd. Und doch blieb ihr sicher keine bessere Wahl, noch konnten wir ihr eine bieten.
»Doch wenn wir diese Sache probieren«, sagte Merry gerade, »dann müssen wir es bald tun. Ich habe eine Schiffsladung von Waren, die in See stechen soll, sobald die Gezeiten und Winde es erlauben. Wird die junge Frau denn in der Verfassung sein, in zwei oder drei Tagen eine solche Reise zu unternehmen?«
»Das wird sie müssen«, sagte ich. »Sie ist jung und verfügt über die Selbstheilungskräfte der Jugend. Der größte Feind ihrer Genesung ist, denke ich, die Angst vor dem, was folgen könnte, denn gewiss ist es ihrem Zustand nicht zuträglich, wenn sie weiß, dass man sie, sobald sie sich aus dem Bett erhoben hat, vor Gericht zerren und auf den Prügelbock schnallen wird. Wenn sie das alles hingegen hinter sich lässt – nun, es würde mich sehr überraschen, wenn die Aussicht sie nicht schnell wieder auf die Beine bringen würde.«
Als wir zum Schulhaus kamen, gab mir Merry die Hand, und ich nahm sie mit frohem Herzen entgegen, denn ich wusste, dass ich in ihm einen treuen Freund hatte. Er meinte, ich solle am folgenden und darauffolgenden Tag vor Sonnenaufgang nach ihm Ausschau halten. Er würde mit einem geschlossenen Wagen kommen, denn ein Gefährt, in dem man das Mädchen nicht verstecken könne, komme nicht in Frage.
Doch mit einem hatten wir nicht gerechnet: mit Makepeace. Ausgerechnet als wir uns verabschiedeten, kam er direkt vom Versammlungshaus auf uns zu, die jüngeren Schüler, die unter seiner Obhut standen, folgten ihm wie eine Schar Gänschen. Caleb, Joel und Dudley bildeten die Nachhut. Merry nahm Makepeace beiseite, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen, wie die Dinge um unsere vermeintliche Verlobung standen. Ich half dabei, die Jungen nach drinnen zu geleiten und tat mein Bestes, für Ordnung zu sorgen, während ich ihnen eine Zwischenmahlzeit reichte.
Wir saßen noch bei Tisch, als Makepeace mich um eine Unterredung unter vier Augen bat und mich mit abgewandtem Blick fragte, ob Merrys Aussage über meine Gefühle den Tatsachen entspräche. Ich bestätigte ihm alles. »Aus deinem Verhalten habe ich seit einigen Wochen geschlossen, dass dein Herz von Merry unberührt geblieben ist«, erwiderte er trocken. »Doch ich frage mich, ob der Verlust einer solch guten Partie dich nicht ein wenig bekümmern sollte. Es ist keineswegs sicher, dass du ein solch gutes Angebot noch einmal bekommst.«
»Was das betrifft«, erwiderte ich, »vertraue ich ganz auf die Vorsehung unseres Herrn.«
»Wohl gesprochen, Schwester. Nun, dann ist diese Sache also erledigt. Das alles ist doch höchst unglücklich, muss ich sagen.« Sein Gesicht wurde fleckig und rot. Offenbar beschäftigte ihn etwas, denn er konnte mir nicht in die Augen schauen. Nun erst wurde mir klar, dass er sich schämte. »Ich bin mir sicher, es ist für alle Beteiligten das Beste«, stammelte er. »Wer sich bindet, ohne zu lieben, der wird lieben, ohne sich zu binden, und das öffnet, wie wir wissen, der Sünde Tür und Tor. Und ich hoffe, du wirst mir verzeihen, wenn ich das eine Weile lang vergessen hatte.« Er blickte zu Boden und zupfte an einem nicht vorhandenen Fussel an seiner Manschette. »Ich vermisse Vater, weißt du. Ich bin nicht der Mensch, der er war. Er hätte die Angelegenheit nicht so
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