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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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Kraftlinien so verändert, dass der eigentliche Konflikt nicht einfach nur ein gewaltsamer ist, hat man bereits einen Vorteil erreicht.
    Es liegt auf der Hand, dass der Raum für gewaltfreies politisches Handeln im zeitgenössischen Nordamerika weit größer ist als im Chiapas der 90er Jahre. Als der Präsident der New Yorker Columbia University im Frühjahr 1968 die Polizei auf den Campus rief, um ein von Studenten besetztes Gebäude räumen zu lassen, galt das als Verstoß gegen die stillschweigende Übereinkunft, dass Universitäten nicht im militärischen Stil gegen ihre eigenen Studenten vorgehen. Als eine Handvoll von Studenten sich 2009 an einer Besetzung von New School und New York University versuchten, sahen sie sich fast auf der Stelle von Antiterrorkommandos der Polizei überwältigt, die bereits seit den Anschlägen vom 11. September mit Hightech-Waffen und -Gerät trainiert und nur auf eine Gelegenheit gewartet hatten, sie endlich einzusetzen. Wichtiger war jedoch, dass der Aufschrei seitens der Medien ausblieb. Ja, die nationalen Medien erwähnten die Vorfälle noch nicht einmal. Dergleichen war einfach nicht berichtenswert. Was heißt: Der Einsatz völlig unangemessener militärischer Gewalt gegen friedlich demonstrierende Studenten in ihrer eigenen Universität galt zu dem Zeitpunkt bereits als völlig normal (ganz anders als noch im Mai 1970 beim Kent-State-Massaker, bei dem allerdings auch vier Studenten erschossen worden waren).
    Die politische Schlüsselfrage muss demnach folgendermaßen lauten: Wie lässt sich dieser Raum wieder öffnen? Dies ist einer der Gründe, weshalb der Ausdruck »Besetzung«, wie mir scheint, eigentlich recht hilfreich ist. Viele haben seines militärischen Ursprungs wegen Einwände dagegen erhoben. Stimmt, in Europa spricht man von »Hausbesetzern« und davon, dass Arbeiter eine Fabrik »besetzen«, während wir in Amerika es eher gewohnt sind, von einem im Zweiten Weltkrieg »besetzten Frankreich« zu hören, von dem »besetzten Gebiet« des Westjordanlands oder von der »Besetzung« Bagdads durch amerikanische Streitkräfte. Keine sehr inspirierenden Beispiele. Aber es ist nun mal genau das, was wir machen: Wir besetzen etwas. Die militärische Analogie istabsolut passend. Wir nehmen Raum in Besitz und verteidigen ihn mittels diverser Formen von moralischer, psychologischer und physischer Kraft. Entscheidend ist, dass wir diesen Raum, haben wir ihn einmal befreit, sofort in einen Raum der Liebe und Fürsorge umwandeln. Dieses Bild von Liebe und Fürsorge war auch unsere Hauptwaffe, wie der Umstand beweist, dass es einer anhaltenden Kampagne seitens der Mainstreammedien bedurfte, die Bilder von Demokratie, Gemeinschaft und Speisung der Hungrigen durch größtenteils aus den Fingern gesogene Bilder von Gewalt und sexuellen Übergriffen zu ersetzen. Diese Bilder sollten die koordinierten Übergriffe der Polizei rechtfertigen, was ihnen schließlich auch gelang.
    Es geht um die Delegitimierung
    Lassen wir die taktischen Fragen nun mal beiseite und beschäftigen uns mit Fragen der Strategie. Natürlich ist beides, wie ich bereits betont habe, nie scharf zu trennen. Fragen der Taktik sind immer auch Fragen der Strategie.
    Dies bedeutet jedoch auch, dass man hier zu keinen endgültigen Einschätzungen kommen kann, weil es in der Bewegung im Augenblick keinen absoluten Konsens über die endgültige Beschaffenheit des strategischen Horizonts gibt. Wir haben alle an Bord: von Liberalen, deren Interesse dahin geht, die Demokratische Partei nach links zu treiben, um zu einer Art New-Deal-Kapitalismus zurückzukehren, bis hin zu Anarchisten, die in letzter Konsequenz den Kapitalismus mitsamt dem Staat einreißen wollen. Allein die Tatsache, dass sie bisher so großartig zusammengearbeitet haben, ist ein kleines Wunder. Aber irgendwann wird man einige schwierige Entscheidungen treffen müssen.
    Wenn bislang eines klar geworden sein dürfte, dann, dass die Occupy-Bewegung letztlich auf etwas basiert, was man in der revolutionären Theorie oft als Doppelstrategie bezeichnet. Da die bestehende politische, rechtliche und wirtschaftliche Ordnung hoffnungslos korrupt ist, versuchen wir befreite Territorien außerhalb dieser Ordnung zu schaffen. Es handelt sich dabei um einen Raum außerhalb des Staatsapparats und seines Anspruchs auf das Gewaltmonopol, soweit das irgend möglich ist. Im gegenwärtigen Amerika sind wir freilich kaum in einer Position, befreite Viertel oder gar Territorien

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