Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
so scharfsinnig bemerkt hast. Ich besitze nur wenig. Ich gehe zur Arbeit, mache meinen Job, dann gehe ich nach Hause. Keine Verabredungen, keine Freunde. Sicher, ich habe mich nicht in dem verloren, was passiert ist. Ich habe keine wiederkehrenden Albträume. Ich schätze, in dieser Hinsicht hatte ich Glück. Und ich habe keine Schuldgefühle, was den jungen Beamten angeht. Das klingt vielleicht gefühllos, aber ich habe mein Gewissen tief genug erforscht, ich weiß, dass es stimmt. Er wurde von seinen Kollegen angestachelt, sicher, hat sich mitreißen lassen vom Alkoholrausch. Ich nehme an, manche würden als Ausrede gelten lassen, dass er zu schwach war, um sich zu weigern, oder dass er einfach den Verstand verlor - vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit. Aber ich war die, die vergewaltigt wurde. Und ich habe sein Gesicht gesehen, als er es tat. Er hat es verdient, alles. Eine Schande ist nur, dass ich nicht die Möglichkeit hatte, den anderen ebenfalls in die Eier zu treten.« Sie hielt inne. »Aber seien wir ehrlich, ich hab in Harkside noch keine richtige Kripoarbeit gemacht. Ich weiß, dass ich gut bin - ich bin schnell, ich bin clever und ich arbeite hart -, aber bis zu diesem Fall hatte ich nichts als Einbrüche, Vandalismus und hin und wieder einen Ausreißer.«
»Und jetzt?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Jetzt weiß ich nicht. Du bist der Erste, dem ich das erzählt habe.«
»Hast du's deinem Vater nicht erzählt?«
»Ray? Nein. Er würde zu mir halten, aber er würde es nicht verstehen. Er wollte von Anfang an nicht, dass ich zur Polizei gehe.«
»Ein malender Hippie? Das hätte mich auch gewundert.«
»Er hätte wahrscheinlich einen Demonstrationszug angeführt, dessen Ziel New Scotland Yard gewesen wäre.« Sie hielt inne und spielte wieder mit dem Haar. »Jetzt bist du dran. Du weißt ja, du hast versprochen, mir auch was zu verraten.«
»Ja?«
Sie nickte.
»Was möchtest du wissen?«
»Hast du Jimmy Riddle wirklich geschlagen?«
Banks drückte seine Zigarette aus und legte seine Kreditkarte auf das kleine Tablett, das der Kellner auf dem Tisch gelassen hatte. Fast umgehend wurde es mitgenommen. Die Theater waren jetzt aus, die Leute standen vor der Eingangstür Schlange.
»Ja«, sagte er. »Hab ich.«
Sie lachte. »Heilige Scheiße! Das hätte ich gern miterlebt!«
In null Komma nichts war der Kellner mit der Karte zurück. Banks unterschrieb die Rechnung, Annie suchte ihre Einkaufstaschen zusammen, dann gingen sie nach draußen in das abendliche Treiben im West End. Die Straßen waren voller Menschen, die vor den Pubs standen und tranken. Vier Männer versperrten ihnen den Bürgersteig, zusammen sprachen sie lachend in ein Mobiltelefon. Banks und Annie machten einen Bogen um sie. Auf der anderen Straßenseite sah Banks eine betrunkene Frau in einem karierten Schulmädchenmini, schwarzen Strapsen und hochhackigen Schlampenschuhen, die versuchte, sich mit ihrem Freund zu streiten und gleichzeitig zu gehen. Es gelang ihr nicht, sie stolperte über den Rand des Bürgersteigs und lag dann mit gespreizten Beinen im Bordstein, ohne Unterlass fluchend. In der Ferne plärrten Sirenen.
»Jetzt nicht lachen«, sagte Annie, »aber damals ... du weißt schon, im Hinterhof, als du den Arm um mich gelegt hast, ja?«
»Ja.«
»Also, ich hatte so eine Ahnung, dass es so weit kommen würde, und ich wusste nicht, ob ich schon dazu bereit war. Ich wollte dir sagen, dass ich lesbisch wär. Damit die Abfuhr nicht so schlimm war, damit du nicht dachtest, es wäre persönlich gemeint, verstehst du, dass es nicht darum ging, dass ich dich nicht mochte, sondern dass ich mich einfach nicht für Männer interessierte. Ich hatte es mir schon genau zurechtgelegt.«
»Und warum hast du's nicht getan?«
»Als es so weit war, wollte ich nicht. Glaub mir, ich war von dem, was passierte, bestimmt genauso überrascht wie du. Genauso ängstlich. Ich weiß, ich hab dich zu mir eingeladen und dir Alkohol gegeben, aber ich hatte wirklich nicht vor, dich zu verführen.«
»Das habe ich auch nicht gedacht.«
»Ich wollte dir anbieten, auf der Couch zu schlafen.«
»Das hätte ich auch dankend angenommen.«
»Aber als es so weit war, da wollte ich dich. Ich hatte furchtbare Angst. Es war das erste Mal seit der Nacht, von der ich dir gerade erzählt habe. Aber ich wollte es tun. Ich schätze, ich wollte meine Angst überwinden.
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