Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
das Radio an. Es spielte den ersten Satz aus Tschaikowskis Violinkonzert.
Banks schaute sich im Zimmer um. Die Wände sahen gut aus; sie ergänzten sich hübsch mit der Decke, die er in der Farbe reifen Camemberts gestrichen hatte. Vielleicht war das Blau ein klein wenig zu kühl, dachte er, obschon ihm bei diesem Wetter jegliche Form von Abkühlung willkommen war. Er konnte die Wände im Winter, wenn Schnee und Eis kamen, ja immer noch orange oder rot streichen, dann würden sie den Eindruck von Wärme vermitteln.
Er zündete sich die letzte Zigarette des Tages an und ging mit seinem Glas nach draußen. Das Cottage stand an einem schmalen, unbefestigten Weg ungefähr fünfzig Meter westlich von Gratly. Gegenüber von Banks' Haustür befand sich eine Art Ausbuchtung in der niedrigen Mauer, die zwischen dem Weg und Gratly Beck verlief. Tagsüber bot sich die Stelle für Wanderer an, die kurz anhalten und den Wasserfall bewundern wollten, doch nachts war nie jemand da. Der Weg war keine Durchgangsstraße, und so hatte Banks viel Platz, um sein Auto zu parken. Kurz hinter dem Cottage verjüngte sich der Weg zu einem Fußpfad, der zwischen dem Wald und Gratly Beck verlief.
Banks sah das Eckchen inzwischen als seine private Veranda an und er stand gern dort draußen oder saß spät abends, wenn es still war, auf der niedrigen Mauer und ließ die Beine baumeln. Es half ihm beim Nachdenken, beim Ordnen der Gedanken.
Heute waren die Steine noch warm; der Rauch auf seiner Zunge schmeckte süß wie frisch gemähtes Heu. Ein Schaf blökte hoch oben auf dem Hügel und der Wasserfall war nur ein oder zwei Nuancen dunkler als die Nacht selbst. Helles Sternenlicht blitzte im glänzenden Himmel, dazu die Lichter der Bauernhäuser in der Ferne; der fast volle Mond leuchtete auf Helmthorpe in seiner Talsohle und der viereckige Kirchturm mit seiner uralten Wetterfahne stand trotzig in der Dunkelheit. So muss es während der Verdunkelung gewesen sein, dachte Banks und erinnerte sich an die Geschichten seiner Mutter über die Zeit der deutschen Luftangriffe auf London.
Über dem ausgetrockneten Wasserfall sitzend, dachte Banks wieder daran, auf welch seltsame Art er zu diesem abgelegenen Cottage gekommen war. Es war ein »Traumhaus« in mehr als einer Hinsicht; obwohl er es nie jemandem erzählt hatte, hatte er es tatsächlich aufgrund eines Traumes gekauft.
Während der letzten einsamen Monate in der Doppelhaushälfte in Eastvale hatte sich Banks so sehr gehen lassen, dass er nach Weihnachten nicht einmal mehr geputzt oder aufgeräumt hatte. Warum auch? Abends stand er meistens sowieso im Pub oder fuhr allein durch die Gegend, und nachts schlief er halb betrunken auf dem Sofa zu den Klängen von Mozart oder Bob Dylan ein, während sich das Einwickelpapier von Fish and Chips und die Pappkartons von Außer-Haus-Lieferungen in einem ständig größer werdenden Kreis um ihn stapelten.
Im April hatte er offenbar den Tiefpunkt erreicht. Tracy, die ihre Mutter über das Osterwochenende in London besucht hatte, deutete am Telefon an, dass es einen neuen Mann in Sandras Leben gebe, einen Fotojournalisten namens Sean, und dass es ernst zu sein schien. Er sähe jung aus, meinte Tracy. Das war ein Riesenkompliment aus dem Mund einer Neunzehnjährigen. Sofort fragte sich Banks, ob diese Affäre wohl schon begonnen hatte, bevor Sandra und er sich im vergangenen November getrennt hatten. Er fragte Tracy danach, aber sie sagte, das wisse sie nicht. Außerdem schien es sie zu stören, dass Banks die Möglichkeit überhaupt in Erwägung zog, und so wechselte er das Thema.
Nach dem Gespräch empfand Banks noch mehr Wut und Selbstmitleid. Immer wenn er an Sean dachte, was viel häufiger vorkam, als ihm lieb war, wollte er ihn umbringen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, einen alten Kumpel bei der Metropolitan Police in London anzurufen und ihn zu fragen, ob sie das Schwein nicht unter irgendeinem Vorwand einbuchten konnten. Es gab eine Menge Bullen bei der Metropolitan, die sich keine Gelegenheit entgehen lassen würden, jemanden namens Sean einzulochen. Aber auch wenn er die Vorschriften gelegentlich großzügig ausgelegt hatte, hatte Banks seine Position nie zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt, und damit wollte er in der schlimmsten Phase seines Lebens auch nicht anfangen.
Sein Hass war unvernünftig, das wusste er, aber wann ist Hass schon mal vernünftig? Er hatte Sean noch nicht einmal kennen gelernt.
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