Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
entweder haben Sie eine übermäßig gesteigerte Meinung vom Arztberuf oder Sie sind schlichtweg stur. Da ich Sie kenne, tippe ich auf Letzteres. Können wir nicht einmal ernsthaft über die Angelegenheit sprechen und unseren Verstand einschalten?«
»Auf jeden Fall. Meine Güte, Sie sind heute Morgen aber mürrisch, Doc, oder?«
»Ja. Das kommt davon, dass mir mein Arzt empfohlen hat, ich solle die Finger vom Kaffee lassen. Und ich hab Ihnen schon mal gesagt, dass sie mich nicht Doc nennen sollen! Das ist respektlos. Also, hören Sie zu! Wer diese arme Frau erstochen hat, der hat sie beinahe in Einzelteile zerhackt. Es scheint mir schwer vorstellbar - nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich, wenn Sie so wollen -, dass der Mörder danach noch das Bedürfnis verspürte, sie zu erwürgen. Durch das Maß an Aggression war er zum einen anschließend wohl ziemlich erschöpft, von dem freigesetzten Zorn gar nicht zu reden, die schon fast postkoitale Entspannung, die manche Täter nach dem Begehen extrem brutaler Verbrechen verspüren. Deshalb würde ich sagen, zuerst kam die Erdrosselung, dann, aus welchem Grund auch immer, die Stichwunden. Im Übrigen kommt diese Reihenfolge auch statistisch häufiger vor.«
»Aber warum die Stich Verletzungen? Um sicherzustellen, dass sie wirklich tot war?«
»Das bezweifle ich. Auch wenn es möglich ist, dass sie nach der Erdrosselung noch lebte und vielleicht nur vorübergehend das Bewusstsein verlor. Wie schon gesagt, wir haben es hier mit Zorn, mit Aggression zu tun. Das ist die einzige Erklärung. Einfach ausgedrückt: Der Täter verlor beim Morden die Kontrolle über sich. Er sah buchstäblich rot. Entweder das, oder er wusste genau, was er tat, und es machte ihm Spaß.«
»Er?«
»Auch das ist statistisch gesehen häufiger. Obwohl ich eine starke Frau nicht ausschließen würde. Aber Sie wissen so gut wie ich, Banks, dass solche Sachen oft mit Wollust zu tun haben. Oder sie entwickeln sich aus sehr starken Gefühlen wie Eifersucht, Rachsucht, Besessenheit, Gier und Ähnliches. Es ist denkbar, dass es eine betrogene Ehefrau oder eine abgewiesene Geliebte war, eine missglückte lesbische Beziehung. Aber statistisch gesehen sind es Männer, die so was tun. Ich möchte Ihnen nicht in die Arbeit hereinreden, aber ich glaube nicht, dass Sie es mit einem ganz normalen Mord zu tun haben. Er sieht nicht nach einem Täter aus, der bei einem Einbruch ertappt wurde oder ein Geheimnis vertuschen wollte. Aber natürlich können Verbrecher manchmal auch verflucht geschickt sein und ihre Tat so tarnen, dass sie in eine andere Richtung weist. Das haben wir diesen ganzen Krimis zu verdanken, wenn Sie's genau wissen wollen.«
»Gut«, meinte Banks und kritzelte auf den Block vor sich. Das war der Nachteil von Computern: Wenn man telefonierte, konnte man sich schlecht Gesprächsnotizen machen. »Was ist mit den Geburtsfurchen?«
»Meiner Ansicht nach sind es welche.«
»Es besteht also nicht die Möglichkeit, dass sie ebenfalls durch ein Messer verursacht wurden oder im Laufe der Zeit entstanden?«
»Nun, es besteht natürlich immer die Möglichkeit, dass sie durch etwas anderes hervorgerufen wurden, durch ein Tier, durch Reibung eines kleinen Steins oder Kiesels oder Ähnliches, doch in Anbetracht des Fundorts können wir Aktivitäten von Aasfressern eigentlich ausschließen. Nach so langer Zeit ist es eigentlich unmöglich, irgendetwas mit hundertprozentiger Sicherheit zu sagen. Doch nach Anordnung und Erscheinungsbild der Kerben zu urteilen, würde ich sagen, es sind Geburtsfurchen. Die Frau hatte ein Kind, Banks. Wann, ist natürlich nicht zu sagen.«
»Okay«, sagte Banks. »Vielen Dank, Doc.«
Glendenning schnaubte und legte auf.
***
Tag für Tag verfolgte ich im Februar und März 1942 die Nachrichten. Selbstverständlich waren sie zensiert und gekürzt, aber ich las von den geschätzten sechzigtausend Briten, die in Singapur gefangen genommen worden waren, und von den Kämpfen am Sittang, von wo Matthew Gloria ebenfalls einen Brief schrieb, in dem er berichtete, es sei dort sehr langweilig, aber wirklich sicher, sie solle sich keine Sorgen machen. Es liegt auf der Hand, dass im Krieg nicht nur die Regierung lügt.
Am 8. März dann hörten wir, dass Rangun gefallen war. Die Stimmung im Lande war ziemlich gedämpft. Im April gaben die Deutschen gar nicht mehr vor, nur militärische und industrielle Ziele bombardieren
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