Inspector Alan Banks 15 Eine seltsame Affäre
zurückkehren würde.
In Roys Fernsehzimmer war nur ein Familienfoto, Banks betrachtete es. Es war im August 1965 auf der Promenade von Blackpool aufgenommen worden. Im Hintergrund sah man den Blackpool Tower.
Da standen sie, alle vier: die Eltern in der Mitte, auf der einen Seite Roy mit Sommersprossen und viel hellerem Haar, als er später hatte, auf der anderen der vierzehnjährige Banks in schwarzer hautenger Hose und Beatles-Pullover mit Rollkragen. Er hatte eine launische und, wie er damals fand, coole Miene aufgesetzt. Banks hatte das Foto noch nie länger studiert, doch jetzt wurde ihm klar, dass Graham Marshall es aufgenommen haben musste. Graham hatte die Familie Banks damals im Urlaub begleitet. Einen Monat später war er auf seiner sonntagmorgendlichen Zeitungsrunde verschwunden.
Es waren die Ferien gewesen, in denen sich Banks in die herrliche Linda verliebt hatte. Sie arbeitete im örtlichen Café. Obwohl sie viel zu alt für ihn war, hatte er für sie geschwärmt. Dann hatten Graham und er sich am Pleasure Beach mit zwei Mädchen angefreundet, Tina und Sharon, und sich mit ihnen zum Schmusen unter den Pier verzogen. Banks konnte sich nicht erinnern, dass das Bild gemacht worden war, aber das war nicht verwunderlich. Er konnte sich kaum noch an Roy in dem Urlaub erinnern. Welcher 14-Jährige verschwendete seine Zeit mit seinem neunjährigen Bruder?
Graham Marshall war tot, ebenfalls ein Mordopfer, und jetzt Roy. Banks betrachtete seinen Vater in dem alten grauen Pullover mit dem V-Ausschnitt, die aufgekrempelten Hemdsärmel, die Zigarette im Mundwinkel, das Haar mit Pomade zurückgekämmt. Dann musterte er seine Mutter, sicherlich kein heißer Feger, aber überraschend jung und hübsch mit Dauerwelle. Das Sommerkleid betonte ihre schlanke Taille. Sie lächelte in die Kamera. Was würde man nächste Woche finden, wenn ihre Organe untersucht wurden, fragte sich Banks. Würde sie überleben? Und sein Vater, nach all diesen Hiobsbotschaften? Banks bekam langsam das Gefühl, dass alle Menschen, mit denen er Kontakt hatte, verflucht seien, all seine Gefährten Geiseln des Todes, wie die Geister in »Strange Affair«.
Dann schalt er sich, so rührselig zu sein. Er hatte den Mord an Graham Marshall nach über fünfunddreißig Jahren aufgeklärt. Seine Mutter würde die Operation überleben, und das Herz seines Vaters würde noch sehr lange schlagen. Roy war tot, und Banks würde herausfinden, wer ihn auf dem Gewissen hatte. So war das.
Als Banks sich fertig machte, um Gareth Lambert noch einen Besuch abzustatten, klingelte sein Handy.
»Hallo, Alan, hier ist Annie.«
»Ich dachte, du bist auf dem Heimweg.«
»War ich auch, aber dann ist was dazwischengekommen.«
Banks umfasste das Telefon fester. »Was?«
»Die Technik hat herausgefunden, wo das Digitalfoto auf dem Handy deines Bruders gemacht wurde.«
»Wie haben die das denn geschafft?«
»Über die Liste leer stehender Fabriken«, erklärte Annie. »Auf der Mauer im Hintergrund konnte man einige Buchstaben lesen: NGS und ANG. Eine der aufgeführten Fabriken war Midgeley's Castings, und einer der älteren Beamten in der Mannschaft konnte sich erinnern, dass er auf dem Schulweg immer daran vorbeigekommen war. Auf einem Schild stand: >Midgeley's Castings: Hält ein Leben lang<. Die Firma wurde 1989 geschlossen, seitdem ist da nichts mehr passiert.«
»Wo ist die?«
»Richtung Battersea raus unten am Fluss. Tut mir leid, wenn ich so brutal bin, Alan, aber die Tidenexperten sind sich einig, dass dein Bruder mit ziemlicher Sicherheit dort in den Fluss geworfen wurde. Es wird also immer wahrscheinlicher, dass tatsächlich Roy auf dem Bild zu sehen ist. Wir fahren jetzt da raus. Willst du auch hinkommen?«
»Was für eine Frage! Was sagt Brooke dazu?«
»Es wäre in Ordnung. Treffen wir uns da?«
»Gut.«
Annie nannte ihm die Anschrift und beschrieb die Anfahrt. Banks eilte zu seinem Wagen.
»DS Browne?«
»Am Apparat.«
»Hier ist DC Templeton aus Eastvale. Wie läuft's bei Ihnen?«
»Gut, danke. Gibt's was Neues?«
»Vielleicht«, sagte Templeton und betastete die Plastiktüte vor sich auf dem Tisch. »Ich wollte noch mal mit Roger Cropleys Frau sprechen, aber er war auch zu Hause. Angeblich hatte er eine Sommergrippe, aber ich hab nicht gemerkt, dass er Schnupfen oder so hatte. Auf jeden Fall habe ich ihn wohl ein bisschen aus der Fassung
Weitere Kostenlose Bücher