Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
zu ignorieren, die in ihm aufkam. McGarrity war im Knast, aber was war, wenn einer der anderen sich für die Razzien des Rauschgiftdezernats rächen wollte? Wahrscheinlich war es dumm gewesen, Yvonnes Freund gegenüber die eigene Identität preiszugeben, aber wie hätte er sich sonst durchsetzen sollen? »Hör zu, ich komme sofort nach Hause. Du bleibst da, falls sie auftaucht.«
»Soll ich in den Krankenhäusern anrufen?«
»Mach das ruhig«, sagte Chadwick. »Und schau dich noch mal in ihrem Zimmer um. Sieh nach, ob etwas fehlt. Kleidung oder so.« So würde Janet wenigstens beschäftigt sein, bis er nach Hause käme. »Ich bin schon auf dem Weg, bin so schnell wie möglich da.«
Das Allgemeine Krankenhaus von Eastvale war das größte Hospital im Umkreis, und dementsprechend überarbeitet waren die Angestellten. Die Kapazitäten waren vollständig erschöpft. Das Gebäude lag an der King Street, hinter dem Polizeirevier, ein gewaltiger viktorianischer Klotz mit hohen, zugigen Gängen und großen Stationen mit riesigen Schiebefenstern, die zweifellos die Kälte des Winters für die hier früher untergebrachten Tuberkulosepatienten hereinlassen sollten.
In der Notaufnahme war noch nicht viel los, da es erst Donnerstagmittag war. Mit Hilfe einer Krankenschwester fanden Banks und Annie Kelly Soames ohne große Probleme. Die Vorhänge um ihr Bett waren zugezogen, aber nur, sagte die Schwester, um ihre Privatsphäre zu schützen, nicht aus ernsteren Gründen. Als sie sich neben das Bett setzten, war Annie erleichtert, zu sehen und zu hören, dass die Verletzungen eher oberflächlich waren. Das Blut stammte größtenteils von einer Kopfwunde, bei weitem die schlimmste der Verletzungen, aber selbst die hatte nur eine Gehirnerschütterung hervorgerufen. Kellys Kopf war mit einem Verband umwickelt. Ihr Gesicht war grün und blau geschlagen, die Lippe geplatzt, und über dem Auge hatte sie eine genähte Wunde, doch davon einmal abgesehen, versicherte ihnen die Krankenschwester, hätte es keine Brüche oder inneren Verletzungen gegeben.
Annie war unheimlich erleichtert, was ihre Wut auf Kevin Templeton und Calvin Soames jedoch nicht im Geringsten schmälerte. Es hätte ja viel schlimmer kommen können. Sie nahm Kellys Hand und sagte: »Es tut mir so leid. Ich wusste es nicht. Ich wusste wirklich nicht, dass es so weit kommen würde.«
Kelly schwieg und starrte nur unter die Decke.
»Können Sie uns sagen, was passiert ist?«, fragte Banks.
»Sieht man das nicht?«, gab Kelly zurück. Durch die Schmerzmittel und die geplatzte Lippe sprach sie etwas undeutlich, doch sie drückte sich klar genug aus.
»Ich würde es lieber von Ihnen hören«, sagte Banks.
Annie ließ Kellys Hand nicht los. »Sagen Sie es uns!«, bat sie. »Wo ist er, Kelly?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte Kelly. »Ehrlich nicht. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich dachte, mein Kopf würde platzen.«
»Das war das Stuhlbein«, erklärte Banks. »Sie haben einen Schlag mit dem Stuhlbein bekommen. Von Ihrem Vater?«
»Von wem denn sonst?«
»Wie kam es dazu?«
Annie bot Kelly Wasser an, und Kelly trank einen Schluck. Sie zuckte zusammen, als der Strohhalm die Wunde an ihrer Lippe berührte. Dann stellte sie das Glas zur Seite, starrte an die Decke und erzählte mit apathischer Stimme: »Er hatte was getrunken. Nicht so wie sonst ein paar Bier vor dem Essen, sondern richtig stark, so wie früher. Whisky. Schon zum Frühstück. Ich habe ihm gesagt, er soll es lassen, aber er hat mich einfach ignoriert. Ich habe den Bus nach Eastvale genommen und bin einkaufen gegangen, und als ich zurückkam, trank er immer noch. Ich merkte, dass er schon richtig besoffen war. Die Flasche war so gut wie leer, und er hatte ein ganz rotes Gesicht und redete vor sich hin. Ich machte mir Sorgen um ihn und hatte Angst. Aber kaum machte ich den Mund auf, drehte er durch. Was ich mir einbilden würde, ihm zu sagen, was er zu tun hätte. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass er mich für meine Mutter hielt, so wie er mit mir redete. Dann wurde er richtig ausfallend. Ich meine, nur mit Worten, er wurde nicht gewalttätig oder so. Das kam erst, als ich bei der Polizei anrief. Sobald er mich am Telefon sah, ging es los. Er drehte durch. Er ging auf mich los, zuerst gab er mir nur Ohrfeigen und schubste mich, aber dann schlug er zu. Dann fing er an, Sachen kaputtzumachen, Möbel zu zertrümmern. Ich konnte nur
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