Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
noch die Hände vors Gesicht halten, um mich zu schützen.«
»Er kam Ihnen nicht zu nahe?«, fragte Annie.
»Nein. Nein. So was nicht. So etwas würde er nie tun. Aber wie er mich beschimpfte ... das kann ich gar nicht wiederholen. Es waren dieselben Schimpfwörter wie früher bei meiner Mutter, wenn sie Streit hatten.«
»Was geschah mit Ihrer Mutter?«, fragte Annie.
»Sie starb im Krankenhaus. Sie hatte irgendeine Krankheit - ich weiß nicht, was es war -, aber die Ärzte fanden es nicht schnell genug heraus und stellten dann die falsche Diagnose. Als meine Mutter schließlich operiert wurde, war es schon zu spät. Sie wachte nicht mehr auf. Dad meinte, irgendwas mit der Narkose wäre schief gegangen, aber das weiß ich nicht. Wir haben es nie ganz verstanden, und er kann es nicht vergessen.«
»Und seitdem ist Ihr Vater so besitzergreifend?«
»Ich bin die Einzige, die auf ihn aufpasst. Er kann nicht auf sich selbst aufpassen.« Kelly trank noch einen Schluck Wasser und musste husten. Tropfen liefen ihr am Kinn hinab. »Wie geht es jetzt weiter? Wo ist Dad? Was passiert mit ihm?«
»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Annie mit einem Seitenblick auf Banks. »Aber wir finden ihn. Dann sehen wir weiter.«
»Ich will nicht, dass ihm etwas passiert«, sagte Kelly. »Ich meine, ich weiß, dass er etwas Falsches getan hat und so, aber ich will nicht, dass ihm etwas passiert.«
Annie hielt ihre Hand. Es war die alte Geschichte: Die Misshandelten schützten den Missetäter. »Mal sehen«, meinte sie. »Mal sehen. Jetzt erholen Sie sich erst einmal.«
Zurück auf dem Revier, suchte Banks Superintendent Gervaise in ihrem Büro auf und berichtete ihr von Kelly Soames. Außerdem deutete er an zu wissen, dass sie von Templeton mit Informationen versorgt würde, und empfahl ihr, ihm nicht blindlings zu vertrauen. Es lohnte sich schon allein wegen ihres Gesichtsausdrucks.
Danach versuchte Banks, Kelly Soames und ihre Probleme eine Weile zu vergessen und sich auf die Ermittlung im Fall Nick Barber zu konzentrieren, bevor er zu dem Treffen mit Ken Blackstone in Leeds aufbrach. Zwei Constables hatten die Kisten mit Unterlagen durchforstet, die sie von Barbers Wohnung in London hochgeschickt hatten, aber lediglich alte Artikel, Fotos und Geschäftskorrespondenz gefunden. Nichts bezog sich auf seine Reise nach Yorkshire. Offensichtlich hatte Barber seine aktuelle Arbeit mitgenommen, und jetzt war sie verschwunden. Banks fand eine Cellosonate von Brahms im Radio und machte es sich gemütlich, um noch einmal in den alten MOJO- Heften zu blättern, die John Butler ihm in London mitgegeben hatte.
Er brauchte nicht lange für die Erkenntnis, dass Nick Barber sein Handwerk verstand. Abgesehen von den Artikeln über die Mad Hatters, gab es Beiträge über Shelagh MacDonald, Jo Ann Kelly, Comus und Bridget St. John. Barbers Interesse an den Hatters schien vor ungefähr fünf Jahren geweckt worden zu sein, so wie man Banks erzählt hatte. Für Musik selbst interessierte er sich schon lange, offensichtlich seit seiner frühen Jugend.
Jugend ... Banks erinnerte sich an den kleinen Schauer, den er verspürt hatte, als Simon Bradley von Linda Lofthouse' ungewollter Schwangerschaft erzählte.
Es dürfte nicht allzu schwer sein herauszufinden, ob er recht hatte, dachte Banks. Er griff zum Hörer und suchte die Nummer der Barbers aus der Akte.
Als sich Louise Barber am Telefon meldete, erklärte Banks, wer er sei, und sagte: »Ich weiß, dass Ihnen diese Frage seltsam vorkommen muss, ich will Sie auch nicht beunruhigen oder aufschrecken, aber war Nick adoptiert?«
Es gab eine kurze Pause, dann folgte ein Schluchzen. »Ja«, sagte sie. »Wir haben ihn adoptiert, als er erst ein paar Tage alt war. Wir haben ihn wie unser eigenes Kind behandelt, und das ist er für uns immer geblieben.«
»Natürlich«, meinte Banks. »Glauben Sie mir, das ist in keiner Weise als Kritik zu verstehen. Kommen Sie bitte gerade jetzt nicht auf so einen Gedanken, außerdem führte Nick, soweit ich es beurteilen kann, ein angenehmes und glückliches Leben mit vielen Vorteilen, die er sonst vielleicht nicht gehabt hätte. Es geht nur um ... also, wusste er es? Sagten Sie es ihm?«
»Ja«, erwiderte Louise Barber. »Wir haben es ihm schon vor langer Zeit gesagt, als wir glaubten, er sei in der Lage, damit umzugehen.«
»Und wie reagierte er?«
»Damals? Gar nicht. Er
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