Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
wahr?«
* Samstag, 13. September 1969
Yvonne saß vorn im Oberdeck des Busses der Linie 16, der ins Stadtzentrum fuhr, kaute an den Fingernägeln und überlegte, was sie tun sollte. Irgendein schlaues Bürschchen hatte das Schild NO SPITTING in NO SHITTING geändert. Yvonne zündete sich eine Zigarette an und brütete über ihrem Dilemma. Eventuell hatte sie ein ernstes Problem.
Am Vorabend war ihr Vater wie gewohnt spät von der Arbeit nach Hause gekommen. Er hatte etwas aus seiner Aktentasche geholt, und dabei war ein Foto zu Boden gefallen. Schnell hatte er es wieder eingesteckt und offenbar geglaubt, es habe niemand bemerkt. Doch Yvonne hatte das Foto des toten Mädchens gesehen, das am Sonntag beim Brimleigh-Festival erstochen worden war, und mit einem Schreck festgestellt, dass sie die Tote kannte: Linda.
Natürlich nicht besonders gut; Yvonne war ihr nur einmal begegnet und hatte nicht besonders lange mit ihr gesprochen. Doch die örtliche Hippie-Szene war so klein, dass man früher oder später praktisch jedem über den Weg lief, wenn man sich nur lange genug an den richtigen Orten aufhielt, sei es im Grove, dem Adelphi oder dem Peel, außerdem gab es noch die Studentenpubs in der Woodhouse Lane, in Hyde Park oder Headingley. Selbst weiter weg wie im Farmer's Inn, wo sonntagabends immer Blues-Bands wie Savoy Brown, Chicken Shack, Free und Jethro Tull auftraten. Außerdem konnte man Gift darauf nehmen, dass jeder Hippie alle Hebel in Bewegung setzte, um eine Veranstaltung mit einem Staraufgebot wie in Brimleigh besuchen zu können. Wenn man also recht darüber nachdachte, war es gar kein so großer Zufall, dass Linda dort gewesen war. Der Punkt war bloß, dass man nicht erwartete, dort umgebracht zu werden; es sollte ein friedliches Ereignis sein, ein Treffen aller Sippen, ein Fest der Einigkeit.
Der Bus rumpelte die Tong Road entlang, vorbei am Lyric, das für eine Doppelvorstellung von Alles unter Kontrolle und Das total verrückte Campingparadies aus dem letzten Jahr warb. Was für ein Scheiß, dachte Yvonne. Es war ein grauer Tag, leichter Regen schlug gegen die Scheiben. Die typischen tristen Reihenhäuser wanden sich den Hügel bis zur Hall Lane hinauf, schmutzig roter Backstein und dunkle Schieferdächer. Hinter dem Crown, an der Kreuzung mit der Wellington Road, stieg bei den Wohnblocks eine Gruppe Jugendlicher ein und besetzte die anderen Frontsitze.
Hier waren ein paar Jahre zuvor Teile von Geliebter Spinner gedreht worden, erinnerte sich Yvonne. Ehe die Wohnblocks errichtet wurden, standen hier damals nur verfallene Häuser. Yvonne war ungefähr acht Jahre gewesen, als ihr Vater sie zu den Dreharbeiten mitgenommen hatte. So war sie schließlich in einer Massenszene gelandet und hatte eine kleine Fahne geschwenkt, als Tom Courtenay im Panzer vorbeifuhr, doch als sie sich den Film später ansah, hatte sie sich nirgends entdecken können. Die Jugendlichen neben ihr zündeten sich Zigaretten an, blickten ständig zu ihr herüber und machten anzügliche Bemerkungen. Yvonne ignorierte sie.
Sie hatte Linda eines Abends in den Sommerferien in dem Haus in Bayswater Terrace getroffen. Damals hatte sie den Eindruck, dass Linda auf der Durchreise war. Sie hatte zwar eine Weile dort gelebt, war dann aber nach London gezogen. Linda war wirklich toll, erinnerte sich Yvonne. Sie kannte ein paar von den Bands und hing oft mit Rockstars in Clubs und an anderen angesagten Orten rum. Sie war kein Groupie - das hatte sie klargestellt -, sie mochte einfach die Musik und die Typen, die sie machten. Yvonne erinnerte sich, dass jemand behauptet hatte, einer von den Mad Hatters sei Lindas Cousin, aber Yvonne wusste nicht mehr, wer das war.
Linda spielte sogar selbst ein bisschen Gitarre. An jenem Abend hatte sie sich mit einer Akustikgitarre hingesetzt und »As Tears Go By« und »Both Sides Now« gespielt. Keine schlechte Stimme, hatte Yvonne gedacht und ein wenig Ehrfurcht vor Linda empfunden, die mit ihrem langen blonden Haar, dem weißen Kleid und ihrem blassen Gesicht eine irgendwie leuchtende Erscheinung abgab. Alle Typen waren verknallt in Linda, das merkte man, aber sie interessierte sich für keinen. Linda war frei. Sie war eine Persönlichkeit. Und sie hatte ein kehliges Lachen, was Yvonne überraschte, weil Linda eigentlich so unschuldig wirkte, ähnlich wie Marianne Faithful.
Auch McGarrity war an jenem Abend anwesend, fiel Yvonne wieder ein, und selbst er hatte
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